Mouhamed Dramé: Auf den Polizeiskandal folgt der Justizskandal

Die Polizei mordet, die Justiz ermuntert

Seine Worte gingen fast unter im Tumult des vollbesetzten Gerichtssaals: Als der Vorsitzende Richter Thomas Kelm verkündete, alle fünf Angeklagten auf Kosten der Staatskasse freizusprechen, standen die meisten Journalisten noch. Viele mussten sich bei ihren Nachbarn erkundigen, ob sie richtig gehört hatten.

Dieser Freispruch für fünf Polizeibeamte, die an dem tödlichen Einsatz gegen Mouhamed Lamine Dramé am 8. August 2022 in einer Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt beteiligt waren, überrascht nicht. Ungewöhnlich ist nur, dass sich die fünf Polizisten überhaupt vor Gericht verantworten mussten. Mit dem Todesschützen Fabian S. war erstmals in der Geschichte der BRD ein Polizist wegen im Amt ausgeführten Totschlags angeklagt worden. Ihre Verwunderung darüber, plötzlich für eigenes Handeln geradestehen zu müssen, äußerten die Angeklagten während des Prozesses. In den Worten von Pia Katharina B.: „Erst hat man uns gesagt, das wird schon alles gut, und plötzlich sitzt man hier vor Gericht.“

31 Prozesstage binnen 51 Wochen ließ das Landgericht Dortmund sich Zeit, um den tödlichen Einsatz zu untersuchen. Dabei ging es vor allem um die Fragen, ob die Anwendung polizeilicher Gewalt gegen Mouhamed Dramé überhaupt gerechtfertigt war und ob der Schütze Fabian S. sich auf Notwehr beziehungsweise Nothilfe berufen darf.

Die Staatsanwaltschaft kam in ihrem Plädoyer zu dem Schluss, der nicht angedrohte Angriff mit Pfefferspray auf Dramé sei rechtswidrig gewesen. Einsatzleiter Thorsten H. hatte den angeordnet – nach eigenem Bekunden, um den Jungen dazu zu bewegen, das Messer wegzulegen. Der Geflüchtete aus Senegal kauerte am Nachmittag jenes 8. August 2022 in einer Mauernische im geschlossenen Innenhof der Jugendhilfeeinrichtung. Er befand sich in einer psychischen Ausnahmesituation und hielt sich ein Küchenmesser an den Bauch, wohl in suizidaler Absicht. Weil er auf Anspracheversuche durch Mitarbeiter der Einrichtung nicht reagierte, wählte der Leiter schließlich den Notruf. Die Leitstelle schickte zwölf Polizisten. Nach einem kurzen Anspracheversuch eines Zivilbeamten auf Deutsch und Spanisch – Sprachen, die Mouhamed nicht verstand – verteilte Thorsten H. polizeiliche Zwangsmittel und stellte seine Kollegen so auf, dass Mouhamed zwangsläufig auf neun Polizisten zulaufen musste, um aus der Mauernische hervorzukommen. Ein Sozialarbeiter sagte im Zeugenstand aus, er habe die Einsatzbesprechung mitbekommen. H. habe gesagt: Ansprechversuch starten, wenn das nicht funktioniert, Pfefferspray, wenn das nicht funktioniert, Taser. Die Aussage ist glaubwürdig, das Gericht ignorierte sie.

Die Staatsanwaltschaft forderte in ihrem Plädoyer, Thorsten H. wegen Verleitung Untergebener zu einer Straftat sowie fahrlässiger Tötung zu zehn Monaten Haft, ausgesetzt auf zwei Jahre Bewährung, und 5.000 Euro Geldstrafe zu verurteilen. Jeannine Denise B., die Beamtin, die Dramé unangekündigt mit Pfefferspray angegriffen hatte, habe nicht erkennen können, dass der Einsatz dieses Zwangsmittels rechtswidrig war, argumentierte die Staatsanwaltschaft. Sie plädierte auf Freispruch für B., wie auch für drei weitere der Angeklagten.

Thorsten H. hatte behauptet, er habe unverzüglich handeln müssen, weil Dramé sich jederzeit das Messer habe in den Bauch rammen können. Die Staatsanwaltschaft ließ das nicht gelten. Oberstaatsanwalt Carsten Dombert erinnerte daran, dass Jeannine B. erst nach der dritten Anordnung zur Tat geschritten war. In den 37 Sekunden zwischen dem ersten und dritten Befehl habe Mouhamed Dramé sich nicht bewegt. Eine „gegenwärtige Gefahr“ für sein Leben habe folglich nicht bestanden, H. habe die Lage dennoch nicht neu bewertet.

Dieser Ansicht folgte das Gericht nicht. Die Zeitspanne sei „egal“, weil Dramé schon mit seinem Leben abgeschlossen habe, fabulierte Richter Kelm – derselbe Richter, der kurz darauf wusste, niemand habe Dramé „in den Kopf schauen“ können. Nachdem er mit Pfefferspray angegriffen worden war, bewegte sich Mouhamed Dramé auf die Beamten zu. Wie schon Staatsanwaltschaft und Nebenklage stellte auch das Gericht fest, dass Dramé dabei keine Angriffsabsicht gehegt habe. Aus Sicht der Beamten allerdings habe eine solche vorgelegen, entschied das Gericht. Sie seien irrtümlich von einer Notwehrsituation ausgegangen.

Viele Journalisten nahmen die Urteilsbegründung kopfschüttelnd zur Kenntnis. Mouhamed Dramés Brüder Sidy und Lassana, die dem Prozess als Nebenkläger beiwohnten, weinten während der Urteilsverkündung. „Familie Dramé ist mit großen Erwartungen an den Rechtsstaat hierhergekommen und bitter enttäuscht worden“, sagte ihre Rechtsanwältin Lisa Grüter dem WDR. Solidarische Prozessbeobachter erhoben sich nach der Urteilsverkündung und skandierten „Justice for Mouhamed“ und „Das war Mord!“ In ihre Richtung hatte Oberstaatsanwalt Dombert zwei Prozesstage vorher gesagt: „Hier ist Recht gesprochen worden.“ Das Urteil samt Begründung legt das Gegenteil nahe. Die Beamten hätten alles richtig gemacht, behauptete Kelm. Das Urteil ist ein Freibrief für Polizisten in ganz Deutschland. Schießt einfach, Gesetze gelten für euch nicht – diese Botschaft haben Kelm und Kollegen ihnen mitgegeben.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Staatsanwaltschaft Dortmund hat Revision beantragt, um den Freispruch von Thorsten H. zu überprüfen. Die Nebenklage prüft, ob sie ebenfalls Revision beantragt. Anwältin Grüter erinnerte daran, dass Thorsten H. „für den Fall der Eskalation alle Rollen verteilt“ hatte, „für den Erfolgsfall aber nicht“.

Für den Solidaritätskreis Justice4Mouhamed geht der Kampf um Gerechtigkeit für Mouhamed, gegen Polizeigewalt und Rassismus weiter. Gut 70 Teilnehmer trafen sich unmittelbar nach der Urteilsverkündung zu einer Mahnwache vor dem Landgericht. „Das hier heute ist nicht die Ausnahme, sondern die rassistische Normalität in Deutschland“, stellte ein Redner fest. Von dem großen Pathos von Demokratie und Zivilisation sei nichts übrig, wenn es darauf ankomme. „Diejenigen, die keine Anzeichen dafür sehen, sind selbst Teil des systemischen Rassismus“, verwies er auf entsprechende Äußerungen der Staatsanwaltschaft, der Strafverteidiger und des Gerichts.

Etwa 2.000 Besucher nahmen an einer Großdemonstration am 14. Dezember in der Dortmunder Innenstadt teil. Dort sprach auch Saliou Jalloh, dessen Bruder Oury vor knapp 20 Jahren in einer Dessauer Polizeizelle ermordet worden war.

Unsere Berichterstattung zu dem Prozess haben wir hier zusammengestellt.

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"Die Polizei mordet, die Justiz ermuntert", UZ vom 20. Dezember 2024



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