Die Pandemie macht die Systemfrage sichtbar

Von Hans Modrow

Der nachfolgende Beitrag wurde auf Bitte der chinesischen Akademie für Gesellschaftswissenschaften verfasst. Die Forschungseinrichtung in Beijing will im Mai 2020 einen Sammelband vorlegen, in welchem sich Persönlichkeiten aus aller Welt zum Thema Corona, die Bekämpfung des Virus und die Folgen äußern.

Es war in der Botschaft Japans in Berlin zu Beginn des Jahres. Die ersten besorgniserregenden Nachrichten aus der Volksrepublik China hatten auch Europa erreicht. Für manchen deutschen Politiker, der der Einladung des Botschafters gefolgt war, schien das aber alles noch sehr weit weg. Takeshi Yagi begrüßte seine Gäste mit herzlichen Worten und bat sie, für Frieden und Verständigung in der neuen Ära zu wirken. Im Vorjahr hatte Kaiser Naruhito den Chrysanthemen-Thron bestiegen, die neue Ära heißt „Reiwa“, was „schöne Harmonie“ bedeutet. Aber vermutlich nicht nur aus diesem Grunde fiel kein unschönes Wort über den Nachbarn jenseits des Ostchinesischen Meeres.

Der deutsche Gastredner Volker Kauder nahm in seiner offiziellen Rede den Gedanken der Harmonie auf. Kauder war ein einflussreicher und mächtiger Politiker, bis vor wenigen Wochen hatte er im Bundestag die Fraktion der konservativen Regierungsparteien CDU/CSU geführt. Und das dreizehn Jahre lang. Er galt als wesentliche Stütze der Bundeskanzlerin Angela Merkel – seine Abwahl als Fraktionsvorsitzender interpretierten Beobachter als Folge des schleichenden Machtverlustes der Bundeskanzlerin. Kauder ergriff also das Wort vor den vielen geladenen Gästen und unternahm eine „Tour d’Horizon“, wie das in der Sprache der Diplomatie heißt. Und plötzlich fiel das Wort von der „chinesischen Seuche“.

Der Begriff erschreckte mich. „Seuche“ war aus dem deutschen Wortschatz schon lange verschwunden, man benutzte dafür den neutralen Begriff „Infektion“. Seuche erinnerte zu sehr an Pest und Cholera, an das Jahrhunderte zurückliegende finstere Mittelalter und an die mangelnde Hygiene, die damals dort herrschte. Die Verknüpfung des alten Begriffs „Seuche“ mit der Volksrepublik China war eindeutig abfällig und antikommunistisch und deutlich disharmonisch.

Ich fragte die attraktive Dame in meiner Nähe, ob ich Kauder richtig verstanden hatte. Sie war durch das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) sehr bekannt und moderierte fast täglich das „heute journal“, eine der wichtigsten Fernsehnachrichtensendungen in Deutschland. Die Frau, so meinte ich, ging zudem mit der deutschen Sprache sehr präzise um und achtete auf Nuancen.

„Hat Kauder wirklich ‚chinesische Seuche’ gesagt?“, erkundigte ich mich bei ihr. Sie nickte. Ja, das habe er. Sie musterte mich aufmerksam, denn sie hatte den kritischen Unterton in meiner Frage durchaus wahrgenommen. Daraufhin beeilte sie sich rasch zu versichern, Kauder habe das gewiss nicht diffamierend oder verunglimpfend gemeint, wie es vielleicht geklungen habe. Sie verteidigte ihn, obwohl es da nichts zu verteidigen gab: Kauder lehnte Beijing und dessen Politik ab. (Wenig später sollte auch sie diese Wendung „chinesische Seuche“ im Fernsehen benutzen. So funktioniert sichtbar die „Meinungsbildung“.)

Der erfahrene CDU-Politiker hatte mit seiner Rede die zwiespältige Politik der Bundesregierung deutlich werden lassen. Auf der einen Seite brauchte Deutschland die Volksrepublik China als Markt und Partner für deutsche Unternehmen, weshalb es in dieser Hinsicht keine Berührungsängste gab. Die Bundeskanzlerin hatte häufiger als jeder andere deutsche Regierungschef vor ihr das Land in Fernost besucht, und stets begleitete sie ein Tross Wirtschaftsfachleute und Konzernvertreter. Die tiefen ideologischen Vorbehalte gegenüber China – und das war die andere Seite – existierten trotzdem weiter. Der Antikommunismus war (und ist) nun einmal wesentliches Element des deutschen Konservatismus. Für die herrschenden Konservativen war jedes Denken außerhalb des christlich-abendländischen Demokratieverständnisses ein Gräuel. In dieser Haltung folgten die BRD bedingungslos den USA. Selbst wenn man mitunter Trumps Attacken auf China kritisch beurteilte, verurteilte man sie nicht. Die Vereinigten Staaten bestimmten, was gut und richtig, was falsch und schlecht in der Welt war. Sie setzten die Maßstäbe für „Freiheit und Demokratie“, denen sich die Politik in Deutschland unterwarf.

Darum überraschte es nicht, dass die strengen Maßnahmen, die zuerst in Wuhan und dann in ganz China ergriffen wurden, in Deutschland zunächst scharf kritisiert wurden. Dort zeige sich der kommunistische Staat von seiner repressiven Seite, berichteten die deutschen Medien unisono. Die Menschen dürften nicht einmal die Häuser verlassen, überall werde kontrolliert, es herrsche totale Überwachung. Die Menschenrechte würden mit Füßen getreten, hieß es entrüstet.

Als jedoch der Virus die Ländergrenzen übersprang und die Politik in Europa und im Rest der Welt vor den gleichen Herausforderungen stand wie die chinesische Führung, ließ für einen Moment die Kritik an der Volksrepublik China merklich nach. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) lobte die ergriffenen Maßnahmen und würdigte, dass China anderen Staaten solidarisch half, was der Volksrepublik internationale Anerkennung eintrug.

Die Kritik im Westen verstummte jedoch nicht deshalb, weil man die auf Veranlassung der Kommunistischen Partei getroffenen Maßnahmen im Nachgang gebilligt hätte – sondern weil man sich selbst gezwungen sah, mit ähnlicher Konsequenz zu handeln. Kindergärten, Schulen und Universitäten wurden geschlossen, Theater und Museen, Restaurants und Hotels machten dicht, Betriebe stellten die Produktion ein, weil sich Mitarbeiterin infiziert hatten, Busse und Bahnen verkehrten nur noch eingeschränkt, Flugzeuge blieben am Boden und Grenzen wurden gesperrt.

Das gesamte öffentliche Leben brach in Europa zusammen. Vielen Menschen verloren – auch in Deutschland – ihre Existenzgrundlage, kleine und mittlere Unternehmen gerieten ins wirtschaftliche Aus. Die Bundesregierung stellte Milliardenbeträge bereit, um den Kollaps zu verhindern. Doch die Soforthilfen, Zuschüsse und Kredite sichern nur für kurze Zeit das Dasein: Was, wenn diese Pandemie und die zu ihrer Bekämpfung ergriffenen Maßnahmen länger dauerten als vermutet und dann Hunderttausende Unternehmen zugrunde gingen? Diese Frage drängte zunehmend nach vorn.

Die Pandemie stelle für die Politik die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg dar, erklärte Bundeskanzlerin Merkel in einer Fernsehansprache. Damals, im Krieg des deutschen Faschismus gegen die Völker Europas, waren Städte und Betriebe zerstört worden. Millionen Menschen hatten ihr Obdach verloren oder irrten heimatlos durch Europa. Es gab nichts zu essen, und es wurde kaum produziert. Die Not machte damals jedoch alle Menschen gleich.

Heute ist das allerdings anders und darum die Situation nicht vergleichbar. Es gibt Vermögende, für die alle Probleme mühelos mit Geld geklärt werden können – sie haben genug davon. Und es gibt auf der anderen Seite sehr viel mehr Menschen, die kein Geld und keine Rücklagen haben, um ihre Existenz zu sichern. Und mitunter endete das Leben – wie schreckliche Bilder aus New York im April 2020 zeigten – in Massengräbern. In einfachen Holzkisten, drei übereinander gestapelt und in langen Reihen, welche anschließend von Planierraupen mit Erde bedeckt wurden.

In Deutschland sah das Elend anders aus.

Da hängten zum Beispiel Privatpersonen für die Ärmsten der Armen Plastikbeutel mit Lebensmitteln an Zäune, weil andere Hilfsquellen versiegt waren.

Auch das Gesundheitswesen stieß an seine Grenzen. In Jahrzehnten waren die Krankenhäuser wie Wirtschaftsunternehmen geführt worden. Alles, was scheinbar unnötig und überflüssig war, wurde eingespart: Personal, Betten, Technik. Die Kranken hießen nicht mehr Patienten, sondern waren Kunden – sie nahmen eine Dienstleistung in Anspruch. Und dabei wurde unterschieden zwischen denen, die privat versichert waren, und jenen, die eine staatliche Pflichtversicherung besaßen. Man sprach von einer Zwei-Klassen-Medizin, weil die Privatversicherten besser und schneller behandelt wurden als die sogenannten Kassenpatienten. Die Daseinsvorsorge war dem Einzelnen und dem Markt überlassen, die Verantwortung des Staates reduziert worden.

Als sich mit der Pandemie die Zahl der Erkrankten dramatisch erhöhte, wurde offenbar, was man in der Vergangenheit im Interesse des Profits eingespart hatte. Es fehlte an Häusern, Betten, Personal, Technik und Medikamenten.

Und gleichzeitig stellte man erstaunt fest, dass man in China innerhalb von Wochen neue Krankenhäuser errichtete, Millionen Mundschutzmasken produzierte (und damit auch noch die Welt beliefern konnte) und auch sonst mit medizinischem Rat und solidarischer Tat anderen Staaten zur Seite stand. Die Weltgesundheitsorganisation würdigte die Leistungen der Volksrepublik als vorbildlich – während in den vermeintlich reichen kapitalistischen Industriestaaten allenthalben Mangel und Notstand im Gesundheitsbereich vorherrschten. Dort überstiegen alsbald nicht nur die Zahlen der Infizierten die chinesischen Zahlen, sondern auch die der Toten.

Nun unterscheidet ein Virus nicht nach Pass und Auskommen, er steckt unterschiedslos jeden an, den er erreicht. Der Unterschied besteht darin, wie die Gesellschaft mit einer solchen Herausforderung umgeht.

Auf einmal stellte sich die Systemfrage wieder. Sie war nie weg. Sie wurde nur nicht mehr gestellt, seit der Sozialismus sowjetischer Prägung in Europa untergangen war. Und in die propagandistische Ablehnung und Auseinandersetzung wurde der Sozialismus chinesischer Prägung im Westen gleich mit einbezogen. Damit erledigte man aktiv auch jedes Nachdenken über gesellschaftliche Alternativen.

Plötzlich, mit der Pandemie, drängten aber wieder Fragen in den Vordergrund, die man seit langem nicht mehr öffentlich zu stellen wagte: Welches gesellschaftliche System ist das humanere? Wo ist der Mensch der Maßstab aller Anstrengungen? Was ist die sozialere Gesellschaft – der Kapitalismus, dessen treibende Kraft einzig die Profitmaximierung ist? Oder ist es vielleicht doch der Sozialismus, den Fidel Castro einmal eine „artgerechte Gesellschaft“ nannte? Wo sich Produktion an den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen orientierte und nicht an den Bedürfnissen, die man ihnen einredet, um mit deren Befriedigung zu verdienen. Und wo der produzierte Mehrwert, der Gewinn, nicht in den Taschen weniger Aktionäre verschwindet, sondern an alle in gleicher Weise verteilt wird. Und welcher politischen Führung kann man mehr vertrauen – jener, die sich für die Belange der gesamten Gesellschaft verantwortlich fühlt und im Interesse aller handelt? Oder jener, die zu ihrem eigenen Vorteil und im Interesse einer kleinen Minderheit entscheidet? Einer Minderheit, die über den größten Teil des nationalen und globalen Reichtums verfügt.

Die 42 reichsten Menschen der Welt besitzen zusammen so viel wie 3,7 Milliarden Menschen, also die Hälfte der Menschheit. In Deutschland ist das Verhältnis nicht anders: 45 Superreiche verfügen über so viel Vermögen wie die Hälfte der deutschen Gesellschaft. Glaubt auch nur ein denkender Mensch, dass diese gewaltigen Vermögen ausschließlich durch anständige, normale Arbeit zustande gekommen sind?

Die Systemfrage taucht in den hiesigen Medien auf in der verklausulierten Feststellung, dass das Leben nach der Pandemie gewiss „anders“ sein werde. „Anders“ sein müsse, denn das kapitalistische System habe in dieser Krise nicht nur seine asozialen Grenzen gezeigt, sondern auch die Sinnfrage menschlichen Lebens gestellt: Der Mensch existiert nicht um zu produzieren und zu konsumieren, sondern um in Einklang und Harmonie mit sich selbst, mit den Nachbarn und mit der Natur zu leben. Die Solidarität ist wichtiger als der Egoismus, Gemeinsinn nötiger denn Eigensinn. Allein das halte eine Gesellschaft zusammen.

Diese Einsicht ist nicht neu. Sie wurde von vielen klugen Köpfen aufgestellt:

Von Franz von Assisi bis zum aktuellen Papst Franziskus, der sich bewusst diesen Namen wählte, weil er dessen Lebensentwurfs für politisch aktuell hielt. Von Jesus bis Ghandi, von Huang Di bis zum Urwaldarzt Albert Schweitzer, von Laozis „Dao de Jing“ bis zur Bibel, von Buddha bis Marx, von Konfuzius bis Xi Jinping.

Ich habe mir in diesem Zusammenhang noch einmal Xis Rede angeschaut, die er auf der Nationalen Konferenz für Hygiene und Gesundheit im August 2016 hielt – lange vor der aktuellen Pandemie. Xi hatte dort auf den dialektischen Zusammenhang von Gesundheitsschutz und gesundheitsfördernden Umweltbedingungen verwiesen. Und darunter war nicht nur die unmittelbare Schonung der Natur und deren Schutz zu begreifen, sondern auch die Sorge um die Natur des Menschen. Eine kapitalistische Produktionsweise hetzt letzten Endes den Menschen zu Tode, sie verbraucht rücksichtslos alle Ressourcen, von denen der Mensch eine ist. „Eine gute Umwelt ist die Grundlage für die Existenz und die Gesundheit der Menschheit“ erklärte Xi, wobei eben unter „Umwelt“ mehr zu verstehen ist als nur die unmittelbare Umgebung und die Natur. Und zugleich machte Xi auch die Verantwortung deutlich. „Der Aufbau eines gesunden China ist ein ernsthaftes Versprechen der Partei gegenüber der Bevölkerung“, erklärte der Staats- und Parteichef. Und diesem humanitären Auftrag wolle sich China als „verantwortungsvolle Großmacht“ auch auf internationaler Ebene stellen. Die Volksrepublik sei bereit, auch „bei Auslandseinsätzen in Notfällen“ sich zu engagieren und „die Kooperation in Hygiene- und Gesundheitsangelegenheiten mit den Ländern entlang den Routen der neuen Seidenstraße zu intensivieren“.

Als langjähriger Politiker und Vorsitzender des Ältestenrates der deutschen Linkspartei frage ich mich, ob meine Partei diesen Problemen die angemessene Aufmerksamkeit schenkt. Die Antwort lautet: Nein. Sowohl im Allgemeinen wie auch im Konkreten nicht. Das praktisch-politische Handeln und das theoretische Denken hat nicht das Niveau, dass den aktuellen Herausforderungen – im nationalen und im globalen Rahmen – angemessen ist.

Was für die deutsche Partei „Die Linke“ gilt, trifft im Wesentlichen auch auf die Europäische Linke zu. Der Untergang des Realsozialismus und der Zerfall der Sowjetunion sorgten nicht nur für Irritationen, sondern auch für einen Niedergang marxistischen Denkens, was bis heute nachwirkt. Das wiederum führte auch zu einer Veränderung in der Haltung gegenüber dem raubtierhaften Kapitalismus. Mut, Entschlossenheit und Solidarität konsequenter solidarischer Kräfte in Europa, aber auch in Lateinamerika wurden erkennbar geschwächt. Von einer Weiterentwicklung des marxistischen Denkens kann nicht die Rede sein. Die deutsche Linke muss jedoch nicht nur die sozialen Kämpfe in der Gesellschaft und bei der Globalisierung, nicht nur die Gestaltung der Demokratie und die politische Führung analysieren und kritisieren, sondern sie hat auch taktische und strategische Alternativen anzubieten. Dazu müssen sowohl vergangene wie gegenwärtige Erfahrungen in die Überlegungen einbezogen werden. Auch jene, die die chinesischen Genossen aktuell machen. Der Ältestenrat der Linken wird darauf Einfluss nehmen, dass marxistisches Denken wieder stärker in den Vordergrund tritt. Das ist dringend nötig.

Bald werden die chinesischen Kommunisten den 100. Jahrestag ihrer Partei begehen. Hunderte Millionen Menschen sind durch sie aus der Armut befreit worden, die Partei will diesen Weg fortsetzen. Die Armut soll für immer überwunden werden. Diese Aufgabe und die Resultate nötigen nicht nur Hochachtung ab. Sie sollten die europäischen Linken auch ermutigen, sich frei zu machen von Momenten der Anpassung an das kapitalistische System und als Ziel eine sozialistische Welt formulieren. Das schließt Anerkennung und Achtung auch der chinesischen Anstrengungen für eine harmonische Welt mit ein.

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