Nach dem Messerangriff von Solingen übersehen Medien eine Welle an Polizeimorden

Die Opfer bleiben namenlos

19. August, München: Polizisten erschießen eine 31-jährige Frau namens Christine H.

Frau H. soll ein Messer gezogen haben, als die Polizei sie in einem Supermarkt antraf. Sie soll sich in einer psychischen Ausnahmesituation befunden haben und vorher mehrfach in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen worden sein.

27. August, Moers: Polizisten erschießen einen 26-jährigen Mann. Seinen Namen nennen sie nicht.

Er soll in einer psychischen Ausnahmesituation Passanten tätlich angegriffen haben und vorher häufiger in der Psychiatrie behandelt worden sein.

28. August, Recklinghausen: Polizisten erschießen einen 33-jährigen Mann. Seinen Namen nennen sie nicht.

Er soll in einem Mehrfamilienhaus „randaliert“ und ein Messer bei sich gehabt haben.

31. August, Berlin: Polizisten erschießen einen 46-jährigen Mann. Seinen Namen nennen sie nicht.

Er soll sich in einer psychischen Ausnahmesituation vor Polizisten in eine Wohnung zurückgezogen und auf Polizisten geschossen haben, die die Tür aufbrachen. Das Opfer soll psychische Probleme gehabt haben.

Vier Polizeimorde in zwei Wochen. Zwölf im laufenden Jahr. Mindestens 495 in der BRD seit 1976, laut Statistik der Zeitschrift „Bürgerrechte & Polizei/CILIP“. Drei Viertel der Menschen, die von Polizisten umgebracht werden, befinden sich in einer psychischen Ausnahmesituation.

Am 23. August soll ein 26-jähriger Geflüchteter aus Syrien drei Menschen auf einem Stadtfest in Solingen erstochen haben. Er wurde nicht von der Polizei erschossen, sondern stellte sich 24 Stunden nach der Tat selbst. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz twitterte: „Der Anschlag von Solingen trifft uns mitten ins Herz. Diese barbarische Gewalt ist unerträglich.“ Besorgte Äußerungen zu tödlicher Polizeigewalt sind von Merz hingegen nicht überliefert.

Während Politiker fast aller im Bundestag vertretenen Parteien sich gegenseitig übertreffen in Sachen rassistischer Hetze, Abschiebungen, Messerverbote und Aufrüstung der Polizei, scheint die Kritik an Polizeigewalt leiser zu werden. Über tödliche Polizeigewalt wird bestenfalls noch in den Meldungsspalten von Tageszeitungen berichtet, die Schlagzeilen sind den Opfern vermeintlicher oder tatsächlicher islamistischer Terroristen vorbehalten. Bürgerliche Medien stricken an einem Narrativ, demzufolge heldenhafte Polizeibeamte Bürger schützen, wenn sie ihre Dienstwaffen ziehen, sobald irgend jemand ein Messer in der Hand hält.

Wer diese Menschen sind, die zu Messern greifen, wird nicht gefragt. Im Fokus der Medien stehen vor allem Migranten. Nach einem Messerangriff in einem Stadtbus in Siegen am Freitag vergangener Woche äußerte sich Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) so: „Es ist eben ein riesiger Unterschied, ob da ein Terrorist unterwegs ist oder ob eine deutsche Frau, die psychische Probleme hat, wahllos auf Menschen einsticht.“ Die 32-jährige mutmaßliche Täterin war nicht von der Polizei erschossen worden. Bevor die ihre Waffen ziehen konnte, war sie von drei Frauen überwältigt worden.

Die Betroffenheit über Opfer von Terroranschlägen und das Schweigen über die Opfer tödlicher Polizeigewalt sind zwei Seiten einer Medaille.

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"Die Opfer bleiben namenlos", UZ vom 6. September 2024



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