Vor 120 Jahren erschien Lenins „Was tun?“

Die Notwendigkeit der Partei

Karl Marx spiegelte die Siegesgewissheit der sich organisierenden Arbeiterklasse wider, als er in der „Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation“ schrieb, die Arbeiter hätten erkannt, dass sie eine eigene Partei bräuchten, um ihre Pflicht, die Eroberung der politischen Macht, zu erfüllen. „Ein Element ihres Erfolges haben sie, die Zahl. Aber Zahlen fallen nur in die Waagschale, wenn Kombination sie vereint und Kenntnis sie leitet.“

Damit führte Marx aus, was bereits im „Manifest der Kommunistischen Partei“ und anderen Schriften des Bundes der Kommunisten erarbeitet worden war: Es bedarf einer über die gewerkschaftliche Vereinigung der Arbeiter hinausgehenden Organisation, die auf einer höheren Stufe der Organisiertheit, der Bewusstheit und der Politik agiert. Sie führt die Arbeiter im Klassenkampf an, dessen drei Ebenen Friedrich Engels beschrieb: „Zum ersten Mal, seit eine Arbeiterbewegung besteht, wird der Kampf nach seinen drei Seiten hin – nach der theoretischen, der politischen und der praktisch-ökonomischen (Widerstand gegen die Kapitalisten) – im Einklang und Zusammenhang und planmäßig geführt. In diesem sozusagen konzentrischen Angriffe liegt gerade die Stärke und Unbesiegbarkeit der deutschen Bewegung.“

Historische Situation

So wie Marx und Engels auf den Schultern der englischen Ökonomen, der französischen Sozialisten und der deutschen Philosophen standen, so griff auch Lenin auf die revolutionäre Tradition Russlands zurück. „Was tun?“ heißt das Buch des revolutionären Demokraten Nikolai Tschernyschewski, in dem er in Romanform den Kampf des aufstrebenden Bürgertums gegen den Zarismus beschreibt. Er arbeitet Probleme heraus, die der Fragestellung Lenins verblüffend ähneln: Der Druck der Verhältnisse verformt das Denken, die Menschen werden auf sich selbst reduziert und damit integriert in die Herrschaftsstrukturen, die Anpassung greift um sich. Dagegen wehren sich viele Menschen unbewusst, wollen kämpfen, und doch fehlen ihnen die ideologische Verbindlichkeit, die einheitliche Weltanschauung, der organisatorische Zusammenschluss und dadurch das einheitliche Handeln. Sowohl ökonomische als auch politische Kader des revolutionären Bürgertums schaffen diese Organisation.

„Vor meiner Bekanntschaft mit den Werken von Marx, Engels und Plechanow hat nur Tschernyschewski auf mich einen entscheidenden, nachhaltigen Einfluss ausgeübt, und das begann mit dem Roman ‚Was tun?’. Das ganz große Verdienst Tschernyschewskis bestand darin, dass er nicht nur zeigt, dass jeder richtig denkende und anständige Mensch Revolutionär sein muss, sondern dass er auch etwas anderes, noch wichtigeres zeigt: wie ein Revolutionär sein muss, welches seine Prinzipien sein müssen, wie er seinem Ziel entgegengehen und mit welchen Methoden und Mitteln er dessen Verwirklichung erstreben muss“, erklärte Lenin 1904 im Exil in Genf. Damit ordnete er sein Werk „Was tun?“ in die revolutionäre Tradition Russlands ein und legte die Grundlagen seiner Aufgabenstellung dar.

Die Lage der Arbeiterklasse zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Russland war verzweifelt. Die Arbeitsbedingungen waren hart, das Leben karg. Viele Arbeiter griffen zum Alkohol, richteten die Aggression gegeneinander und blieben lediglich als Arbeitsvieh erhalten. Maxim Gorki beschreibt auf den ersten Seiten seines zeitgenössischen Romans „Die Mutter“ die Situation: „Und wenn ein Mann dieses Leben fünfzig Jahre gelebt hat, dann stirbt er.“

Vor allem Studenten empörten sich und bildeten den Kern der russischen Revolutionäre. Sie organisierten und agitierten, erstellten Zeitungen und leiteten die Arbeiter an. Sie arbeiteten zunächst anstelle der verbotenen Gewerkschaften. „Enthüllungen“ über Missstände in den Betrieben heizten die Stimmung an und ermöglichten, die eigene Unterdrückung als Unterdrückung der Klasse zu erkennen. Streiks wurden organisiert, in denen die Arbeiter das Kämpfen lernen konnte.
Doch die Revolutionäre hatten ein Problem: Die zaristische Geheimpolizei kannte kein Erbarmen. Immer wieder flogen die Gruppen auf, die Genossen wurden verhaftet. Wie war das zu verhindern? Wie muss ein Revolutionär sein, welches müssen seine Prinzipien sein und mit welchen Mitteln hat er sie zu verfolgen – damals wie heute aktuelle Fragen.

Auswirkungen

Die Verhaftungen und damit das vorläufige Ende der Organisation richtete ideologische Verwirrungen an. Anpassung an die Unterdrückung, also die Selbstbeschränkung auf das immer wieder Mögliche, brachten eine besondere Art des Opportunismus hervor, den Trade-Unionismus. Im Bestreben diese praktische Unterordnung zu begründen, wurde die revolutionäre Zielsetzung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) aufgegeben und Reformschritte an deren Stelle gesetzt. Die Zersplitterung zwischen den einzelnen Gruppen der SDAPR brachte das Zirkelwesen als organisatorische Form des rechtsopportunistischen Politikverständnisses hervor. Ideologisch einflussreich waren die „legalen Marxisten“ und der aufkommende Revisionismus Bernsteins. Dieser eignete sich gut als Theorie zur Rechtfertigung der schwachen Organisation und der mangelnden Politikentwicklung.

Lenin sah nur einen Weg aus dieser krisenhaften Entwicklung, die immer weiter in die politisch-ideologische Anpassung an bürgerliche Politik führte. Er erkannte die objektive Einheit von Politikentwicklung, also dem politischen Kampf der Partei, der ideologischen Arbeit und der Organisationspolitik der kommunistischen Partei. Aufgrund des desolaten Zustands der SDAPR war die Antwort auf die Frage „Was tun?“ entsprechend: „Die dritte Etappe liquidieren.“ Das hieß für Lenin den Zustand der Partei aufheben und sie neu aufbauen als Kampfpartei, die in der Lage ist, die an sie gestellten Ansprüche zu erfüllen.

Ideologische Arbeit

Der Marxismus gibt den Revolutionären zwar ein Werkzeug zum Erkennen und Verändern der Welt an die Hand, aber es sich anzueignen, anzuwenden, Situationen einzuschätzen, nächste Schritte zu erkennen und organisatorisch umzusetzen bedarf es Menschen, die organisiert diese Arbeit machen. Die weltanschaulichen Prinzipien richtig zur Analyse der konkreten historischen Situation anzuwenden ist Grundaufgabe der ideologischen Arbeit der Partei.

Hans Heinz Holz arbeitet in „Kommunisten heute“ heraus, dass Situationsanalyse in den leitenden Organen der Partei geleistet, aber auf jeder Ebene nachvollzogen werden muss. Nicht, dass man das Rad neu erfinden müsse, aber die schöpferische Umsetzung eines Beschlusses bedeute diesen inhaltlich verstanden zu haben. Nur so könne eine richtige, also schöpferisch sich auf die vorgefundenen Bedingungen beziehende Umsetzung vor sich gehen. Das stellt hohe Ansprüche an die Kommunisten, an die Leitungsstrukturen der Partei und an die Bildungsarbeit, die dieses politisch-ideologische Niveau ermöglichen muss. So schwierig dieses Niveau zu erreichen ist, so notwendig ist es, darum zu ringen. Ideologische Standfestigkeit ist die notwendige Voraussetzung. Sie kann Überspitzungen wie Dogmatismus (Prinzipien ohne Situationseinschätzung) und Opportunismus (Situationseinschätzung ohne Prinzipien) vermeiden.

Politikentwicklung

Die Entwicklung menschlichen Bewusstseins ist ein schöpferischer Aneignungsprozess der Welt. Klassenbewusstsein zu entwickeln meint, so Erich Hahn in „Klassenbewusstsein und materialistische Dialektik“, die Kampf-erfahrungen, die die Arbeiterklasse im tagtäglichen Ringen macht, immer wieder vom Standpunkt der gesamten Klasse aus zu durchdenken. Diese Erfahrungen als Teil der Klasse zu machen, sie auszuwerten und die richtigen Lehren mit der Klasse und ihren, vor allem gewerkschaftlichen, Organisationen zu verallgemeinern ist die Hauptaufgabe der Partei. Sie bringt in diesen Lernprozess der Klasse etwas ein, das diese nicht aus sich selbst heraus erlernen kann: den Standpunkt der gesamten Klasse, also den wissenschaftlichen Sozialismus. Dieser bedarf der wissenschaftlichen Weltanschauung und der Abstraktion.

Lenin entwickelte seine Positionen zur Politikentwicklung in zweifacher Abgrenzung. Gegen die Ökonomisten, die die reine betriebliche Erfahrung ohne wissenschaftliche Weltanschauung für ausreichend hielten und sich mit dem begnügten, was bürgerlich „machbar“ erschien. Und gegen den Intellektualismus, den „intellektuellen-Anarchismus“, der das Flugblatt vor dem Betriebstor für alleinseligmachend hielt und die Erfahrungen der Klasse weder kannte noch für nötig hielt.

Diese Form der Politikentwicklung setzt ein hohes Maß an Verankerung der Partei in der Klasse voraus. In dieser Tradition erarbeitete die Kommunistische Internationale die Position zur Notwendigkeit der Betriebszellen als Grundlage der Partei. Lenins Aufforderung „Jeder Betrieb soll eure Festung sein“ und die Kämpfe um die Bolschewisierung, wie sie in Deutschland vor allem Ernst Thälmann in der Partei geführt hat, stehen grundlegend für die „Partei neuen Typus“.

Organisationspolitik

Aufgebaut auf der Grundlage von Betriebszellen war eine feste Verankerung der Partei zu schaffen, die jede Stimmung unter den Arbeitern kennen und einschätzen können musste. Sie musste die Institution sein, die diese Stimmungen als Ausdruck des gegenwärtigen Bewusstseinsstandes zusammentrug und auswertete. Die darauf fußenden Einschätzungen des Bewusstseinsstandes waren Grundlage der Politikentwicklung. Dazu musste jedes Parteimitglied in stetem Kontakt mit den Arbeitern sein, musste um die Verankerung eines jeden gekämpft werden. Jeder Einzelne war also gefragt. In „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ beschreibt Lenin den Kampf um diese Frage, damals ausgetragen am Beispiel des Statuts der SDAPR. In Artikel 1 sollte es heißen, dass nur Mitglied der Partei sein kann, wer aktiv mitarbeitet. Inaktive, Karteileichen brauchte die Partei nicht, sie sollte die Partei der Kämpfer sein.

Um diese Kämpfer anzuleiten bedurfte es einer starken Leitungsstruktur, einer zentralen Leitung, in die nach einer Positionierung von Robert Steigerwald von 1970 selbstverständlich die klarsten Köpfe, die erfahrensten Arbeiterführer und kämpferischsten Organisatoren gehören. Das klang damals in den Ohren der Studentenbewegten vermutlich hart, war aber unmissverständlich und ist bis heute gültig. Eine zentrale Leitung kann am besten die Einschätzungen aller Grundeinheiten der Partei zusammentragen und auswerten, damit ist sie das demokratischste Leitungsgremium. Gleichzeitig bestimmt durch die schöpferische Anwendung der zentralen Beschlüsse jeder durch unmittelbares eigenes Tun mit. So ist die einheitliche Aktion gewährleistet. Der Leninsche Parteiaufbau des demokratischen Zentralismus schafft es, Demokratie und Zentralismus als Aneignung der weltanschaulichen Prinzipien, Situationseinschätzung, Pläneschmiede und Umsetzung inklusive der Auswertung als einheitliches Konstrukt zu organisieren. Die kleinbürgerlich-individualistische Gegenüberstellung beider Teile unserer Organisationspolitik dürfen wir getrost anderen überlassen.

Lenins Werk als Vermächtnis

Die Parteikonzeption, die Lenin in „Was tun?“ entwickelt, ist nicht „fertig“. Sie ist die Orientierung, das Prinzip, das immer wieder angeeignet und um dessen Verwirklichung immer gerungen werden muss:

„Und zwar: die Fragen nach dem Charakter und dem Hauptinhalt unserer politischen Agitation, nach unseren organisatorischen Aufgaben, nach dem Plan für den gleichzeitig und von verschiedenen Seiten in Angriff zu nehmenden Aufbau einer kampffähigen gesamtrussischen Organisation.“

Lesetipp nicht nur für Betriebsarbeiter der Partei: Lenins Schrift „Über Streiks“ ist als Vorarbeit zu „Was tun?“ einzuordnen und ist bis heute ein wichtiger Text für kommunistische Politikentwicklung.

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"Die Notwendigkeit der Partei", UZ vom 25. Februar 2022



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