Zur Bewegung der schreibenden Arbeiter in der DDR

Die Nachhaltigkeit des Bitterfelder Weges

Von Dietrich Löffler

die nachhaltigkeit des bitterfelder weges - Die Nachhaltigkeit des Bitterfelder Weges - Politisches Buch, Rezensionen / Annotationen - Theorie & Geschichte

Rüdiger Bernhardt, Vom Schreiben auf dem Bitterfelder Weg. Die Bewegung schreibender Arbeiter – Betrachtungen und Erfahrungen, Neue Impulse Verlag, Essen, 2016, 353 Seiten, 19,80 Euro, ISBN: 978–3-910080–86-7

Der Bitterfelder Weg gehört zu den umstrittensten Kapiteln der jüngeren Literatur- und Kulturgeschichte. Der Autor, Prof. Dr. Rüdiger Bernhardt, ist wie kaum ein anderer befähigt, dazu Stellung zu nehmen. Er ist von Anfang in und für die Bewegung der schreibenden Arbeiter tätig gewesen. Zu erwähnen sind die Leitung des Zirkels schreibender Arbeiter in den Leuna-Werken bei Halle ab 1966, seine Arbeit in der Leitung der Zentralen Arbeitsgemeinschaft und hier vor allem die Redaktion der Zeitschrift „ich schreibe“. Auch als Wissenschaftler hat er die Bewegung in vielfältigen Publikationen begleitet – das von ihm verantwortete Handbuch „Vom Handwerk des Schreibens“ (1976 und 1983) ist damals auch in der Bundesrepublik hochgeschätzt worden.

Der Band versammelt die wichtigsten Aufsätze und Vorträge des Verfassers zum Thema vornehmlich seit 1989/90. Ihre Anordnung im Buch macht seine Absicht klar. Sie folgen nicht dem Datum ihrer Publikation, sondern sind thematisch angeordnet. Am Anfang steht ein Porträt des Schriftstellers Willi Bredel, der als Vorläufer angesehen werden kann, den Abschluss bilden Porträts und Analysen von Werken zeitgenössischer Schriftsteller, die in der Bewegung begonnen haben. Das signalisiert: Der Verfasser blickt als Literaturwissenschaftler auf die Bewegung zurück.

Dabei hat er sich sogleich mit den vielfältigen oberflächlich-abwertenden Darstellungen der Zirkel schreibender Arbeiter, die in der Literaturgeschichtsschreibung heute vorherrschen, auseinanderzusetzen. Während die einen Kritiker behaupten, die Zirkel hätten die Aufgabe gehabt, parteiliche sozialistische Schriftsteller auszubilden, meinen andere, es ginge ihnen vorrangig um die Schaffung von propagandistischen Texten für Jubiläen, Festspiele oder Festschriften, gar um das Verfassen der verbreiteten Brigadetagebücher.

Der Verfasser weist das überzeugend zurück. Die Brigadetagebücher waren zwar in der gleichen Zeit propagiert worden, aber durchgängig außerhalb der Bewegung entstanden. Die Zirkel strebten grundsätzlich nicht ein vorgegebenes, von außen festgelegtes literarisches Ergebnis an, für sie war der Schreibprozess entscheidend. In ihnen konnten die Mitglieder ihre Fähigkeiten ausprobieren, ihre Arbeiten vorstellen, sich mit anderen Schreibenden austauschen. Die Zirkel waren echte Werkstätten von Schreibenden, ein literarischer Kommunikationsraum für Arbeiter und andere Werktätige. Ihren Arbeiten eignete das, was die literarische Arbeit unverwechselbar macht, die unterschiedliche individuelle Gestalt. In den Porträts zweier Zirkel, dem Zirkel „Maxim Gorki“ im Zen­tralen Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft in Berlin und dem vom Verfasser geleiteten Zirkel der Leuna-Werke, wird dies anschaulich und exemplarisch für die Arbeit aller Zirkel vorgestellt.

Die Breite der Arbeit in den Zirkeln wird in ihren Publikationen greifbar. Hier finden sich vorzüglich Themen aus der Welt der Arbeit und dem Alltag der Schreibenden. Auch andere, die Zeit bestimmende Themen des Lebens, werden intensiv bearbeitet wie die Vorzüge und Probleme der Neubaustädte, Naturerfahrung und Naturerlebnisse in den industriellen Ballungsgebieten. Und nicht zuletzt waren individuelle Befindlichkeiten ein breites Feld der Arbeiten. Natürlich wurden auch von den Betrieben angeforderte Texte produziert. Man vermisst im Buch leider eine aus der praktischen Arbeitserfahrung mit dem Zirkel hergeleitete ausführliche Abwägung dieser Anforderungen gegen das individuelle Schaffen, was über die angeführte grundsätzliche Stellungnahme hinaus mehr Klarheit geschaffen hätte.

Mit Recht verweist der Verfasser darauf, dass der der Bitterfelder Weg keine willkürlich ausgerufene Kampagne der Parteiführung war, sondern dass die Führung eine vorhandene Bewegung aufgegriffen und sie zu einer offiziellen Kampagne gemacht hat. Damit konnten freilich in den volkseigenen Betrieben die praktischen Vor­aussetzungen für die Arbeit von Zirkeln geschaffen werden, die eine weite Verbreitung der Zirkelarbeit möglich machten.

Es ist oft versucht worden, das Ausmaß der Bewegung mit Zahlen zu charakterisieren. Die Anzahl der Publikationen – in der Öffentlichkeit am bekanntesten sind die Anthologien – ist leider nicht mehr feststellbar, auch die Nationalbibliografie verzeichnet viele nicht. Eine nicht überschaubare Zahl von Texten ist darüber hinaus vor allem auch in den Medien platziert worden. Ungewissheit gibt es über die Zahl der Zirkel selbst. Es finden sich im Buch mehrere Stellen dazu – sicher ist die Abschätzung, dass ihre Zahl mit der Festigung der Zirkel um die 300 bei etwa 2500 Mitgliedern lag. Die Bedeutung der Bewegung schreibender Arbeiter ist freilich nicht in ihrer Anzahl zu erfassen, sondern in ihrem Beitrag zum literarischen Leben.

Da geht es nicht nur um die schreibenden Arbeiter selbst. Der Verfasser zeigt auf, dass es keinen Schriftsteller in der DDR gab, der nicht auf irgendeine Weise, manchmal nur vorübergehende Kontakte zu Zirkeln hatte, es aber auch Autoren gab, die in ihnen eine existenzsichernde Arbeit fanden. Eindrucksvoll ist das Kapitel über Franziska Linkerhand, in dem die Verbindung und die Problematik von Zirkelarbeit und schriftstellerischem Schaffen explizit vorgestellt wird.

Diese Begegnung der Schriftsteller mit der Welt der Arbeit und dem Alltag der Arbeitenden war für die Entwicklung der Literatur der DDR bedeutsam. Hier wurzelt die die andauernde Auseinandersetzung der Schriftsteller mit der sozialen Wirklichkeit jenseits aller politischen Wunschvorstellungen. Sie war keine vorübergehende Episode in der literarischen Entwicklung, sie war die Basis für die realistische Grundhaltung der DDR-Literatur.

Abgeschlossen wird der Band mit zwei ausführlichen Porträts von Schriftstellern, die ihren Anfang in der Bewegung schreibender Arbeiter genommen haben. Der eine ist Erhart Ellert alias Lutz Reichelt, dessen Werk einen Nachhall der vergangenen Praxis birgt, der andere Lutz Seiler, dessen Roman „Kruso“ die philosophischen Dimensionen fortführt. Besser kann die Nachhaltigkeit der Bewegung schreibender Arbeiter kaum belegt werden.

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"Die Nachhaltigkeit des Bitterfelder Weges", UZ vom 16. Dezember 2016



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