Geschichtliche Anmerkungen zur aktuellen Sanktionspolitik des Westens

Die Mutter aller Wirtschaftskriege

In Kürze erscheint im Mangroven Verlag das Buch „Sanktionen – eine historisch-marxistische Einführung“ von Manfred Sohn. Der Autor zeichnet darin den Wirtschaftskrieg als eine Ausgeburt des Imperialismus nach, der massives Leid und Elend auslöst, propagandistisch aber als humanere Alternative zum Schießkrieg verkauft wirft. Die immer weitere Zuspitzung des Wirtschaftskriegs gegen Russland trägt die Gefahr eines Dritten Weltkriegs in sich. Sohn zeigt in seinem Buch auf, wie der Kampf um dessen Verhinderung die Möglichkeit eines dritten europäischen Anlaufs zum Sozialismus schaffen kann. Im vorliegenden Text weist er nach, dass der Wirtschaftskrieg eine Entwicklung des Imperialismus ist.

Bereits vor dem 24. Februar 2022, als russische Truppen dem seit 2014 tobenden ukrainischen Bürgerkrieg um den Donbass eine neue Qualität gaben, führte der Westen – also die in der NATO zusammengeschlossenen Staaten unter Führung der USA und unter Einschluss Japans – intensive Diskussionen um den Einsatz von Sanktionen im Konflikt mit Russland. Mitten in diese Debatte hinein veröffentlichte ein an der US-amerikanischen Eliteuniversität Cornell im Bundesstaat New York lehrender Professor für moderne europäische Geschichte namens Nicholas Mulder ein Buch mit dem Titel „The Economic Weapon – The Rise of Sanctions as a Tool of Modern War“, zu Deutsch: Die ökonomische Waffe – der Aufstieg der Sanktionen als ein Mittel des modernen Krieges.

Der in London erscheinende „Economist“, eines der wichtigsten Selbstverständigungsorgane der herrschenden Klassen des Westens, widmete dem neuen Werk des in den USA einflussreichen Professors am 19. Februar, also fünf Tage vor Beginn der danach vor allem in Deutschland viel beschworenen „Zeitenwende“, eine ganze Seite unter der Überschrift „The wonks‘ weapon – A new history of sanctions has unsettling lessons for today“, übersetzt: „Die Waffe der Besessenen – eine neue Geschichte der Sanktionen enthält für heute beunruhigende Lektionen.“

Zwei Lektionen, so der „Economist“, würde das Werk vor allem erteilen: Sanktionen hätten meistens nicht das bewirkt, was ihre Schöpfer damit beabsichtigten – und sie hätten oft unbeabsichtigte Konsequenzen. Meistens würden sie „Öl ins Feuer gießen“.

Die Warnungen aus New York und London verhallten ungehört. Die Lektüre der umfangreichen Studie lohnt dennoch – allein schon, um die skurrile deutsche Debatte zu versachlichen, die sich um den Gebrauch des Begriffs „Wirtschaftskrieg“ durch die Abgeordnete Sahra Wagenknecht im Deutschen Bundestag bei ihrer Rede vom 8. September 2022 entwickelt hat. Wer auch nur den Titel des Buches von Mulder gelesen hat, kann nur den Kopf schütteln über die lächerlichen Versuche, die Existenz eines Wirtschaftskriegs als Waffe gegen Russland abzustreiten.

Privateigentum und Krieg

Gelegentlich wird so getan, als hätte es Sanktionen ja schon immer gegeben. Verwiesen wird etwa auf die Maßnahmen, die Athen im Jahr 432 in den Peloponnesischen Kriegen gegen die Häfen des Gegners verhängt hat, oder auf die verschiedenen Belagerungen von Städten im Lauf der Klassenkämpfe in der Sklavenhaltergesellschaft oder im Feudalismus. Dies, so Mulder, „konstruiert eine ins Irre führende Kontinuität in Raum und Zeit“. In agrarisch und von örtlichen Handwerkern geprägten Gesellschaften, die sich selbst mit regional hergestellten Produkten menschlicher Arbeit versorgten, konnte der Gedanke, durch Blockademittel die ganze Wirtschaft einer Region komplett lahmzulegen, nur Kopfschütteln hervorrufen. Und wer etwa Festungs- oder Städtebelagerungen mit moderner Sanktionspolitik gleichsetzt, landet auf dem alles nivellierenden Niveau des ersten deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer, der bekanntlich Atomwaffen als eine simple Fortentwicklung der Artillerie hinzustellen versuchte.

Die verlockende Möglichkeit, einen Gegner durch wirtschaftliche Maßnahmen in die Knie zu zwingen, entwickelte sich geschichtlich erst durch die stetige internationale Verflechtung der kapitalistischen Wirtschaften vom 17. bis zum 19. Jahrhundert – also durch den Prozess, den Karl Marx und Friedrich Engels als Herstellung des Weltmarkts bezeichneten. In der aufsteigenden Phase dieser neuen Art des Wirtschaftens achteten die treibenden Kräfte – die neu entstehende Klasse der Bourgeoisie – penibel darauf, dass die kleinlichen Kriege von Staaten gegeneinander das Geschäft nicht allzu sehr störten. Zwischen 1840 und 1914 entstand daher ein ganzes Geflecht internationaler Abkommen, die dem Zweck dienten, das „Privateigentum vor Konflikten zwischen den Staaten zu schützen“. Leitlinie war der vom schweizerisch-französischen Aufklärer Jean-Jacques Rousseau in seinem 1762 erschienenen Werk „Der Gesellschaftsvertrag“ entwickelte Gedanke, dass ein Krieg eine Sache zwischen Staaten sei, die Beziehung zwischen einem Menschen und einem anderen aber nicht berühre, auch wenn sie in diesen Staaten leben würden. Staaten könnten eben nur andere Staaten als Feinde haben, nicht aber andere Menschen.

Folgerichtig war „Her Majesty’s Treasury“, also der Schatzmeister Britanniens, während des Krimkriegs, der von 1853 bis 1856 zwischen Britannien, Frankreich und dem Osmanischen Reich einer- und Russland andererseits tobte, anders als sein heutiger Nachfolger überaus bestrebt, alle gegenüber der zaristischen Regierung einmal eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen. Der Krieg endete mit der Pariser Deklaration von 1856, die übrigens der erste internationale Vertrag war, der sich ausdrücklich anderen Nationen zur Mitzeichnung öffnete – bis dahin waren Friedensverträge ausschließlich Sache der Frieden schließenden Vertragsparteien gewesen. Bestandteil dieser Deklaration war die Aufstellung von Kategorien „freier Güter“, deren Beschlagnahmung „on the high sea“, also außerhalb der Küstengewässer, untersagt war.

Dem folgten nach weiteren Kriegen, in denen zum Teil neue kapitalistische Nationen entstanden, weitere entsprechende Verträge, die alle das Ziel hatten, das heilige Privateigentum vor den Folgen der kriegerischen Auseinandersetzungen zu schützen. Generalisiert wurde dies schließlich im Zweiten Haager Vertrag von 1907. Ökonomische Sanktionen, wie wir sie heute als selbstverständlich hinnehmen, also Maßnahmen eines Staates gegen die Handelsbeziehungen eines anderen Staates als Teil einer kriegerischen Auseinandersetzung, waren damals untersagt.

Sanktionen – ein Kind des Imperialismus

Deshalb ist in gewisser Weise die naive Empörung der späteren Mittelmächte – das Deutsche Reich mit seinem Hauptverbündeten, der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie – zu verstehen, als die Alliierten – allen voran Britannien und Frankreich – in den Monaten nach Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 und 1915 darangingen, diese Vertragsgrundlagen des aufsteigenden Kapitalismus aus seiner vorimperialistischen Etappe zu zerreißen. Der damals ertönende „Foul!“-Ruf hat im Nachhinein etwas Putziges, weil die Diener der Kaiser von Berlin und Wien eben nicht mitbekommen hatten, dass sich in der imperialistischen Phase die Rolle des Staates für das kapitalistische System gewandelt hatte. „Europas wachsender Imperialismus“, schreibt Mulder, zertrümmerte die Mauer zwischen Krieg und Geschäft und damit eines der Fundamente der kapitalistischen Entstehungsgeschichte.

Vorher an den Rand gedrängte Denker wie etwa John Nicholl, der schon im Jahr 1800 meinte, es könne nicht gleichzeitig einen Krieg der Waffen und einen Frieden der Geschäftemacherei geben, bekamen in diesem Zusammenhang mehr Aufmerksamkeit und Resonanz. Jede politische Wendung schafft sich eben ihre intellektuellen Rechtfertigungen.

Tonangebend war dabei die damals zunächst unterschätzte aufstrebende kapitalistische Macht jenseits des Atlantiks, die USA. Während des blutigen Bürgerkriegs zwischen den Nord- und Südstaaten schritten die später siegreichen Nordstaaten zur Blockade der Häfen, über welche die Südstaaten ihren Baumwollexport abwickelten, von dem ihre Wirtschaft wesentlich abhing. Der damals dort weit rezipierte Militärtheoretiker Alfred Thayer Mahan pries diese und andere Maßnahmen als „ein wahrhaftig militärisches Mittel – genauso wie das Töten von Männern, deren Waffen den Krieg auf dem Felde bestimmen“.

Wirksamer als Luftangriffe und Gaskrieg

Diese neue Waffe ins Feld zu führen war keine Kleinigkeit und sie war nicht über Nacht zu schmieden. Der Bruch der damals die internationale Politik ordnenden Verträge, die den freien Handelsverkehr vor allem auf hoher See bisher garantiert hatten, bedurfte nicht nur argumentativer und juristischer Anstrengungen. Eine „effektive Isolation hing auch von der Möglichkeit ab, Drittländer am Handel mit dem gegnerischen Staat zu hindern“. Das griff und greift bis heute tief in das Recht von Staaten ein, sich aus Konflikten anderer herauszuhalten. Dieses vornehme Recht von Nationen, zu sagen: „Dies ist nicht unser Krieg“, musste verleugnet werden – und die Anstrengungen in Washington, London, Berlin und anderswo zielen heute gerade auf die neutralen Staaten wie Indien, Brasilien oder China und versuchen, ihnen das Recht auf Neutralität zu streitig zu machen. Sanktionen als Waffe im Krieg sind nur durchsetzbar gegen dieses Recht auf Neutralität.

„(Wir) verurteilen aufs Schärfste die fortgesetzte einseitige Anwendung und Durchsetzung solcher Maßnahmen durch bestimmte Mächte als Druckmittel, einschließlich politischen und wirtschaftlichen Drucks, gegen jedes Land, insbesondere gegen die am wenigsten entwickelten Länder und die Entwicklungsländer, mit dem Ziel, diese Länder daran zu hindern, ihr Recht auszuüben, aus freien Stücken über ihr eigenes politisches, wirtschaftliches und soziales System zu entscheiden.“

(Resolution des UN-Menschenrechtsrats vom 3. April)

Im Ersten Weltkrieg die „Maschinerie der Blockade“ gegen Deutschland aufzubauen erforderte – wie Mulder ausführlich und sehr bildhaft darlegt – den Aufbau eines umfassenden Apparats. Neu geschaffene Behörden vor allem in London, aber auch in Paris, erstellten in angestrengter Arbeit aus Schiffsdokumenten und durch Auswertung von Wirtschaftszeitungen einen systematischen Überblick über die verwundbarsten Stellen der deutsch-österreichischen Kriegsmaschinerie.

Mangan beispielsweise ist ein silberweißes, hartes, sehr sprödes Metall, das für sich genommen keinen großen Nutzen hat, aber eine entscheidende Rolle in den chemischen Prozessen spielte und spielt, um Eisen zu Stahl weiterzuverarbeiten. Deutschland war am Vorabend des Ersten Weltkriegs der zweitgrößte Stahlkocher nach den USA und der in der Branche führende Krupp-Konzern hatte ein international weitverzweigtes Netz aufgebaut, um Mangan zu importieren.

Die Hauptquellen vor dem August 1914, die in Indien und Russland lagen, fielen mit Kriegsbeginn umgehend weg. Der deutsche Fokus richtete sich sofort auf den drittgrößten damaligen Manganlieferanten, Brasilien. Das Land hatte sich aber hinsichtlich des europäischen Hauens und Stechens zunächst für neutral erklärt. Also galt es, Mittel zu ersinnen, den Manganstrom von Brasilien nach Deutschland zu unterbinden, ohne Brasilien auf die Seite des Kaiserreichs zu treiben. Die angewandten Hebel kommen dem heutigen Zeitgenossen bekannt vor: „Fast 90 Prozent der Kohle (der damalige Hauptenergielieferant – M. S.), die Brasilien importierte, kamen aus Britannien. (…) Versicherungen, Handel mit Kohle und ihre Lagerung waren dominiert von Firmen, die ihre Basis auf den britischen Inseln hatten.“

Ein weiterer Hebel, den das „War Trade Department“ (WTD) schnell in den Mittelpunkt rückte, waren die Finanztransfers, die über die Deutsche Bank liefen und für den reibungslosen Transport von Mangan sorgten. Materiell wie finanziell schnitt das britische Empire dem deutschen Imperium nach und nach ein Kabel nach dem anderen durch, mit deren Hilfe bisher Krupp Eisen zu Stahl veredeln konnte. Einer der Gründe der Heftigkeit, mit der Deutschland damals gegen Russland zu Felde zog, lag in der Zielstellung, durch einen schnellen Sieg im Osten die bei Kriegsbeginn verschütteten Manganquellen wieder zu öffnen – was bekanntlich erst 1917 gelang.

Der sich so entfaltende Wirtschaftskrieg war aus alliierter Sicht erfolgreich. Luftangriffe töteten im Ersten Weltkrieg ungefähr 1.400 Zivilisten allein in Britannien und einige Hundert auf dem Kontinent; rund 90.000 Soldaten starben durch die erstmalige großflächige Anwendung von Giftgas. Damit verglichen, schreibt Mulder, war die Blockade die tödlichere Waffe: „Im Ersten Weltkrieg starben zwischen 300.000 und 400.000 Menschen in Zentraleuropa durch den Hunger und die Krankheiten, die Folge der Blockade waren, zusätzlich 500.000 Tote in den Provinzen des Osmanischen Reiches.“

Angesichts dessen von Sanktionen als der vermeintlich humaneren Alternative zum Schießkrieg zu sprechen, verrät vor allem historische Unkenntnis. Sanktionen sind eine Ausgeburt des Imperialismus mit tödlichen Folgen für Kriegsbeteiligte wie für diejenigen, die versuchen, neutral zu bleiben. Sie sind historisch mit dem Imperialismus entstanden und sie werden historisch erst mit ihm zusammen als Geißel der Menschheit verschwinden.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Die Mutter aller Wirtschaftskriege", UZ vom 28. April 2023



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Haus.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit