Zur Neuveröffentlichung des Romans „Die Weltzeituhr“

Die möglichen und die vernünftigen Leben

Von Eberhard Hilscher

die moeglichen und die vernuenftigen leben - Die möglichen und die vernünftigen Leben - Eberhard Hilscher, Rezensionen / Annotationen - Kultur

Eberhard Hilscher

Die Weltzeituhr

Mit einem Nachwort

von Volker Oesterreich

Halle, Mitteldeutscher Verlag 2017

440 S., 14.95 Euro

Am 28. April 2017 würde der Schriftsteller Eberhard Hilscher neunzig Jahre; er starb 2005. Von ihm stammen Monographien zu Thomas Mann, Gerhart Hauptmann und Arnold Zweig, die zu großen Erfolgen wurden. Zahlreiche Essays weisen seine Interessen an der Literatur und Kunst, aber auch an Naturwissenschaften aus, er begeisterte sich für enzyklopädische Geister wie Leibniz, Voltaire und Goethe, widmete sich Albert Schweitzer und Einstein und vielen anderen. Die dreißig Essays „Dichtung und Gedanken“ (vgl. UZ vom 5. Oktober 2001) wiesen ihn als modern und europäisch aus. Die ihm vertrauten Johann Christian Günther und Gerhart Hauptmann nannte er Schlesier, aber beschrieb sie als Europäer, wie er sich fühlte. Am wichtigsten ist seine Prosa, bestehend aus erfolgreichen Erzählungen wie „Feuerland ahoi! Mr. Darwin macht eine Entdeckung“ (1961) und Romanen: Einer über Walther von der Vogelweide („Der Morgenstern“, 1976) wurde historischer und Zeit-Roman, der Minnesänger wirkte in der Gegenwart. Kritiker sahen in ihm den „ersten Experimentalroman der DDR“. Hilscher entwickelte ein Modell: Die Gegenwart ist der aktuellste Moment der Geschichte und der historischste Moment der Zukunft; etwas zu isolieren ist unmöglich. Die Gegenwart wird zur entscheidenden Zeit des Menschen und entsprechend hat er seine Handlungen darauf einzurichten.

Um den Schriftsteller und Literaturwissenschaftler ist es – in Deutschland – still geworden. In Polen dagegen genießt er Aufmerksamkeit und Anerkennung: In seiner Geburtsstadt Schwiebus (heute: Swiebodzin), die ihn 2000 zu ihrem Ehrenbürger machte, hat ihm das Museum eine Gedenkstätte eingerichtet, die sein Berliner Arbeitszimmer nachstellt, seine Privatbibliothek ist dort verfügbar. Kolloquien halten die Erinnerung an ihn wach.

Es ist verdienstvoll, dass der Mitteldeutsche Verlag in Halle, nachdrücklich gebeten von Hilschers Witwe Ute Hilscher, anlässlich des 90. Geburtstages Hilschers am 28. April, den Roman „Die Weltzeituhr“ (1983) neu herausgegeben hat. Der damals gedruckte Roman war abgeschlossen; dennoch arbeitete der Schriftsteller bis zu seinem Tod an einer Fortsetzung, die unter dem Titel „Glücksspieler und Spielverderber“ (2008) in einer wissenschaftlichen Reihe erschien.

Der Titel meint die Weltzeituhr in Berlin auf dem Alexanderplatz. Sie war seit ihrer Installation 1969 Zeichen der Weltoffenheit, die durch die Berliner Mauer behindert, aber nicht verhindert wurde. Dieser Ort war der Abschluss der großzügigen Neugestaltung des Berliner Alexanderplatzes, des Herzstücks Berlin. Dort traf man sich, verabredete man sich, stritt man sich auch. Die Uhr war Treffpunkt von Kulturen. Unter diesem Aspekt nahm sie Hilscher zum Titel seines Romans und weitete ihn zeitgeschichtlich bis 1969 aus. In ihm geht es um Guido Möglich, geboren 1928; Autobiografisches wird im Geburtsjahr erkennbar, das Geschehen indessen ist großenteils fiktiv. Guido, erinnernd an einen Reiseführer (Guide), lenkt durch Zeit und Raum, durch Faschismus und Kalten Krieg, auf der Suche nach Frieden. Seiner Entwicklung parallel wird die seines Landes mit historischer Treue geboten, gestützt auf historische Erfahrungen. Am 21. April 1946 kann man lesen, dass „nach schlimmen Leiderfahrungen …viele Sozialdemokraten und Kommunisten (forderten), endlich gemeinsam eine gerechte, humane Gesellschaftsordnung zu modellieren“ (199). In dieser lebt auch Guido, nicht ohne mit dieser Ordnung auch seine Probleme zu bekommen: Gesellschaft und Individuum haben oft widerspruchsvolle Beziehungen. Der Roman bringt andere Biografien als Vergleichsmöglichkeiten ein, von Einstein bis Picasso. Die publizistisch zugespitzten und ironisch gebrochenen Zeitereignisse zielen auf historische Totalität und wollen gleichzeitig den Mechanismen der gesellschaftlichen und historischen Bewegung auf die Spur kommen. Dabei beruft sich Möglich auf Dichter und Künstler, auf Hegel und die Dialektik. Nicht die DDR ist das Ziel seiner Kritik, obwohl er mit ihr manchen Strauß auszufechten hat, sondern die akute Bedrohung aus einer unkontrollierten Entwicklung der Wissenschaft und deren verantwortungsloser Anwendung, die Menschen vernichtet. Das Beispiel des Atombombenabwurfs der USA 1945 war ein solcher Vorgang (198 f.); das ist von beispielhafter Aktualität. Guido Möglich aber wird zu einem Menschen, dessen Künstlerschaft sich durch diese Entwicklung, seine Unentschiedenheit und durch die Zeit reduziert, ein reduziertes Genie, in dem Barbarisches und Selbstzerstörerisches entsteht, Zynismus herrscht. Guido Möglich verschwindet eines Tages; er blieb „immerdar unauffindbar“. Doch sah Hilscher darin seine Aufgabe: Mit Literatur und Kunst, mit Bildung und Wissen einen Schutz zu schaffen, der humanes Handeln sichert: „Zwar ohne Illusion,/doch voller Hoffnung harren wir“, nimmt der Erzähler kurz vor Schluss Abschied von Guido, „Du warst nur eine Möglichkeit im Spiel“.

Der Roman wurde 1983 gelobt, gewürdigt; Leser und Kritiker bemühten sich, dem anspielungsreichen Werk gerecht zu werden, das große Anforderungen an Wissen und politische Erfahrung des Lesers stellt. In der Zeitschrift ich schreibe erschien 1985 ein Aufsatz, der Hilscher begeisterte: Es sei eine „wahrhaft kunstvolle Kritik mit dem Möglich-‚Leitmotiv‘“ und habe in Guido Möglich „erstmals“ „die Reduktion des Genialen“ (Hilscher am 22. August 1985) erkannt.

Die Neuausgabe hat bisher gekürzte Abschnitte aufgenommen, die durch Veröffentlichungen wie „Kaiser Wu mauert sich ein“ („Neue Zeit“, Berlin, 3. Juli 1993) bekannt waren und an der politisch-geistigen Grundlage des Romans wenig rüttelten. Hilschers Bücher durchliefen komplizierte Druckgenehmigungsverfahren, weil Gegenwartspassagen bei den oft kleinkariert argumentierenden Gutachtern Schlüsse auf Personen und Vorgänge zuließ, die nicht erwünscht waren. Am Ende erschienen Hilschers Bücher jedoch ohne nennenswerte Veränderungen ihrer kulturgeschichtlich-philosophischen Grundlagen.

Die Neuausgabe wird von einem Nachwort begleitet, das zuerst den Roman beschreibt, dann zwischen Verkürzungen und Vorurteilen landet. Mit Uwe Tellkamps Machwerk „Der Turm“ hat Hilschers Roman nichts zu tun, mehr mit Christoph Heins soeben erschienenem Roman „Trutz“. Es geht nicht, wie Nachwort und der davon inspirierte Rücktitel suggerieren, darum, die DDR zu zeigen: „ein diktatorischer Staat, in dem individuelle Charaktere zum Scheitern verurteilt waren“, zumal weder Möglich noch Hilscher scheiterten. Es geht in Hilschers Roman nicht einmal vorrangig um die DDR, obwohl nur die im Nachwort eine Rolle spielt (Der Roman durchleuchte „den deutschen Teilstaat“.), sondern mehr als die Hälfte behandelt die Zeit des Faschismus. Wenn aber dessen Verbrechen, die der Roman im Stil des Brechtschen Lehrstücks reflektiert, „übersehen“ werden – und das wird im Nachwort praktiziert –, ist das verantwortungslos.

Ein Widerstandskämpfer war Hilscher nicht, eine Repräsentationsgestalt für vordergründige Huldigungen auch nicht. Damit spielte er eine Sonderrolle, er war stolz, „niemals eine Auszeichnung ‚verdient‘ zu haben“. Dafür konnte er, wie in seinem Roman, sich in experimentellen Denkabläufen üben.

Die Wende erlebte Hilscher zwiespältig. Einerseits begrüßte er Möglichkeiten wie die der Veröffentlichung, die es nun gab, andererseits sah er den Osten „befreit von Preisstabilität, Arbeitsanspruch, Wohnrecht und ähnlichen Ausschweifungen. Nur den Überwachungsdienst wechselte man klammheimlich aus.“ („Dichter im Visier“). Er sah für „sich kaum etwas zum Positiven wenden“ (17. Dezember 1989) und hatte damit Recht, denn auch seine erwarteten Publikationen blieben aus. Er litt, als z. B. die Gerhart-Hauptmann-Biografie verramscht wurde, ehe sie später – der Bedarf war da – nochmals als Taschenbuchausgabe erschien. Schlimmer traf es ihn 2002, als über ihn ein „kleiner Artikel“ in einer renommierten „Zeitschrift für Literatur“ abgelehnt wurde, unter anderem mit der Begründung, er sei „sicher ein ehrenwerter Schriftsteller“, aber keiner, über den man einen „kritiklosen Text veröffentlichen“ könne. Schließlich wurde der „kleine Artikel“, erweitert zum umfangreichen biografischen Abriss, in Polen veröffentlicht.

Die Neuausgabe der Weltzeituhr bietet die Möglichkeit, in dem Roman eine Dokumentation zu Krieg und Frieden seit den zwanziger Jahren zu finden: Als am 30. September 1969 die Weltzeituhr auf dem Berliner Alexanderplatz eingeweiht wurde, „wehrten südvietnamesische Befreiungskämpfer um fünfzehn Uhr synchron einen amerikanischen Bombenangriff ab“, „tanzten um sechzehn Uhr tausend Kinder auf dem Platz vor dem alten Kaisertor in Peking“ und veröffentlichte man in Chile, „dass die Kommunistische Partei Chiles den Dichter Pablo Neruda für das Amt des Staatspräsidenten nominiert habe“ (352). Der Roman heißt „Die Weltzeituhr“, nicht – wie das Nachwort suggeriert – „Die DDR-Zeituhr“.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Die möglichen und die vernünftigen Leben", UZ vom 21. April 2017



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Flagge.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit