… meint Klaus Mausner, Stuttgart

Die Missachtung der Dialektik muss in die Irre führen …

Klaus Mausner

Spätestens seit Walter Ulbricht wissen wir, dass der Sozialismus als Übergangsgesellschaft zwischen Kapitalismus und Kommunismus eine viel längere und kompliziertere Epoche mit eigenen Gesetzmäßigkeiten darstellt als zuvor von den Marxisten-Leninisten (und auch von deren Klassikern) angenommen wurde. Es handelt sich beim Sozialismus um eine Übergangsgesellschaft zwischen 10.000 Jahren Klassenherrschaft hin zu einer künftigen klassenlosen Gesellschaft! In dieser unglaublich grundsätzlichen Dimension der Umkehrung aller Vorzeichen und Werte menschlichen Zusammenlebens bleibt der Sozialismus eine dialektische Einheit vieler Widersprüche.

Solange es auf Erden noch keine allgemeine Überflussgesellschaft gibt, in der „jedem nach seinen Bedürfnissen“ gegeben werden kann, muss die Verteilung der Güter im Sozialismus nach dem Leistungsprinzip reguliert werden. Sozialismus als Leistungsgesellschaft, nicht als Lustprinzip-Idylle – wenn auch schon deutlich solidarischer, demokratischer und sozialer als im Kapitalismus.

Das heißt auch, dass die Marktgesetze nicht von heute auf morgen verschwinden, sondern bewusst genutzt werden müssen, um sie nach und nach zu überwinden.

Aber Vorsicht vor voreiligen oder gar falschen Verallgemeinerungen! Was in der VR China – unter den Bedingungen eines Noch-Entwicklungslands mit nachholenden Bedürfnissen und nachholender Modernisierung – richtig sein mag, muss für uns in einem der höchstentwickelten imperialistischen Länder keineswegs so sein.

Das gilt auch für den Umgang mit der sogenannten „nationalen Bourgeoisie“ und ihre Einschätzung als „dienende Klasse“. Das Widerspruchsverhältnis zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse bleibt auch da antagonistisch – die zunächst private Aneignung des Mehrwerts bedeutet objektiv das Fortbestehen eines Ausbeutungsverhältnisses. Mit der dadurch zwangsläufig verbundenen ökonomischen Macht entsteht auch eine gewisse gesellschaftliche Macht – selbst wenn die politische Macht weiterhin von beziehungsweise im Auftrag der Arbeiterklasse ausgeübt wird. Diese Machtkonstellation bringt eine fortdauernde Konfliktsituation hervor, die immer wieder neu ausgetragen werden muss – bis zur endgültigen Auflösung dieses Widerspruchs im weiterentwickelten höheren Sozialismus.

Darüber hinaus mussten wir nach der Konterrevolution schmerzlich lernen, dass die Einschätzung von 1969 (Internationale Beratung der Kommunistischen Parteien) eines zu unseren Gunsten „unumkehrbaren internationalen Kräfteverhältnisses“ eine undialektische Illusion war!

Also wird dieser „Ritt auf dem Tiger“ riskant und gefährlich bleiben, auch wenn es keine Alternative dazu geben mag. Dies gilt im nationalen, aber erst recht im globalen Maßstab – und solange es noch den Imperialismus gibt, wird der Kampf der Systeme immer auch die Weltkriegsgefahr in sich bergen.

Wenn wir uns also notgedrungen unsere dialektische wissenschaftliche Weltanschauung auf heutiger aktueller Grundlage wieder neu aneignen müssen – und das setzt intensive theoretische Arbeit und auch philosophisches Studium voraus –, dann werden wir endlich nach dem furchtbaren Rückschlag der Konterrevolution in der Sowjetunion, der DDR und Osteuropa wieder neu an Ausstrahlungskraft gewinnen können.

Aber erst dann werden wir uns in die Lage versetzen, die strategischen Entwicklungslinien einer antimonopolistischen Strategie für unser Land richtig zu bestimmen und damit hegemoniefähig werden. Unter dieser Voraussetzung kann es dann perspektivisch auch gelingen, alle antikapitalistischen Kräfte um unsere Partei herum zu gruppieren und damit tatsächlich zur führenden Kraft, zur realen Avantgarde der Arbeiterklasse zu werden!

Dafür müssen wir allerdings endgültig Abschied nehmen von allem linearen Denken, von allen linearen Vereinfachungen eines „sozialistischen Heilsversprechens“ und begreifen, dass lineares Denken ein Verstoß gegen unsere dialektische Weltanschauung ist und im Kern eine Form des ideologischen Revisionismus darstellt.

Also: Mit heißem Herzen und kühlem Verstand – aber letzten Endes muss in der Wissenschaft der Verstand den Ausschlag geben!

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"Die Missachtung der Dialektik muss in die Irre führen …", UZ vom 1. Dezember 2023



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