Merkwürdig veraltet, merkwürdig aktuell: Unbezahlbare Mieten und Zwangsräumungen kennen die Leute hier. An einem Laternenmast vor dem Neuköllner Rathaus klebt eine Bekanntmachung in Jugendstil-Schrift, die „jede Mietsteigerung und alle Kündigungen“ von Mietern verbietet. Unterzeichner: Der Arbeiter-und Soldatenrat Neukölln. Datum: 2. Dezember 1918.
100 Jahre später führt die DKP Neukölln durch den Norden des Bezirks – das ehemalige Rixdorf –, um die Orte zu zeigen, an denen die Revolutionäre 1918 und 19 für bessere Lebensbedingungen, eine neue Gesellschaft, gegen die Reaktion kämpften.
(Eine Broschüre über die Novemberrevolution in Neukölln und die Stationen der Rundfahrt wird die DKP Neukölln im Dezember herausbringen.)
Als die Revolution am 9. November 1918 Berlin erreichte, begann der Aufstand fast ohne Blutvergießen. Tage später erschossen reaktionäre Truppen die ersten Revolutionäre. Die Trauerfeier wurde zur Demonstration. Sie formierte sich auf dem Tempelhofer Feld, wo die Oberste Heeresleitung (OHL) 1914 vierzig Baracken hatte aufstellen lassen, um in diesem Lazarett verwundete Soldaten behandeln zu lassen. Vertreter des Vollzugsrates, der Volksbeauftragten, der preußischen Regierung und der Stadt Berlin hielten Ansprachen. Mehr als 30 000 Trauernde zogen als letztes Geleit durch das Brandenburger Tor zum Friedhof der Märzgefallenen, der Toten der Revolution von 1848, in Friedrichshain. Dort hielten Karl Liebknecht für den Spartakusbund und Luise Zietz für die USPD die Grabreden.
Das Vergnügungslokal „Neue Welt“ in der Hasenheide war vor dem 1. Weltkrieg ein wichtiger Ort für politische Versammlungen der SPD und der Gewerkschaften. Der große Saal fasste 2 000 Menschen. Dort sprach 1906 Karl Liebknecht bei einer großen Antikriegs-Kundgebung. Im Herbst 1912 rief der französische Sozialistenführer Jean Jaurès hier zu Frieden und Solidarität auf. Ab 1915 diente die „Neue Welt“ als Lazarett.
Die schwarz-weiß-rote Fahne stand für die Herrschaft des Kaisers, den die Revolution gerade gestürzt hatte. Als von der Front kommende Truppen in Berlin einrücken sollten, begrüßten die Gegner der Revolution sie damit, dass sie Schwarz-Weiß-Rot an Häusern und Straßenbahnen hissten. Der Arbeiter- und Soldatenrat schritt ein: Er schickte Soldaten zur Ecke Hasenheide/Wissmannstraße und zu anderen Plätzen, die die Fahnen von den vorbeifahrenden Straßenbahnen rissen und stattdessen rote Fahnen anbrachten.
Urlaub? Fahnenflucht? Im Laufe des Jahres 1918 waren zehntausende Soldaten in Berlin untergetaucht, die nicht zurück zum Schlachten an die Front wollten. Eine Million Soldaten hatten sich gefangen gegeben, waren desertiert oder aus dem Heimaturlaub nicht zurückgekehrt – ein verdeckter Militärstreik. Im Lokal Karlsgarten gab es zu essen. Hier richtete sich ein Plakat an „Urlauber und F
ahnenflüchtige“: „Anspruch auf Verpflegung in Neukölln haben nur Mannschaften, welche nachweislich Neuköllner Bürger sind. Diese melden sich vorm. ab 9 Uhr im Karlsgarten, Karlsgartenstraße. Der Soldatenrat Neukölln.“ Schon vorher war das große Lokal ein geeigneter Ort für geheime Treffen von Kriegsgegnern, unter ihnen Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Wilhelm Pieck. Auch revolutionäre Obleute kamen hier zusammen. Und hier gründete sich Anfang Oktober 1918 der Arbeiter- und Soldatenrat Neukölln.
Am Karlsgarten ging am 9. November 1918 der Demonstrationszug los, der die Neuköllner Schulkasernen, das Polizeipräsidium und das Rathaus besetzte. In der Rathausdruckerei ließ der Arbeiter- und Soldatenrat am folgenden Tag die Zeitung „Weltrevolution“ drucken, in der er seine Forderungen an die provisorische Regierung stellte: Frieden, Übergabe der Macht an die Räte, Enteignung der Kapitalisten, Abschaffung des Privateigentums und Übergabe sämtlicher Produktionsmittel und Gebrauchsgüter in die Hände des Volkes.
Der Historiker Richard Zibelius beschreibt, wie Regierungstruppen in der ersten Hälfte des Januar 1919 ihre wütende „Jagd nach den Führern der Novemberrevolution und Mitbegründern der KPD (Spartakusbund) in Neukölln“ intensivierten: „Ein schweres Geschütz wurde an der Kreuzung Herrfurthstraße/Weisestraße in Stellung gebracht. Auf Balkons und Dächern der Eckhäuser Weisestraße-Selchower Straße und Weisestraße-Herrfurthstraße wurden Maschinengewehre und Scharfschützen postiert, und die Straßenzugänge wurden mit Stacheldrahtverhauen abgesperrt. Alle Personen, die diesen Bereich betreten oder verlassen wollten, wurden streng kontrolliert und nach Waffen und Schriften durchsucht. Auch wurden zu den verschiedensten Tageszeiten Hausdurchsuchungen durchgeführt. Das Lokal Grunwald in der Weisestraße 14 war Stützpunkt und Verkehrslokal des Spartakus, und in der Weisestraße 10 war in einer Nähstube eine Schreibkraft mit Schreibmaschine untergebracht.“ Im Dezember 1918 riefen rechte Zeitungen und zahllose Plakate und Flugblätter dazu auf, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu ermorden. Sie tauchten unter, ihr vorletztes Quartier hatten sie in der Weisestraße: vom 13. auf den 14. Januar, im Hinterhaus der Nr. 8, bei Nowakowski.
Zwischen Weise- und Hermannstraße, in der Mahlower Straße, stand eine Schule, die im Krieg erst als Kaserne, dann als Lazarett diente. Für Kinder und Jugendliche hieß Krieg: Vater an der Front. Mutter an der „Arbeitsfront“. Unterricht fällt aus. Kinder verwahrlosen. Jugendliche bilden Gangs. Der Staat rekrutiert auffällige Jugendliche für die Front. Die Kinder spielen Krieg.
Neuköllner Kinder spielten 1918/19 nicht Räuber und Gendarm, sondern Spartakus und Noske. Neukölln war links. Am 12. Dezember 1918 richtete Fritz Haberland in der Neckarstraße 3 ein Bezirksbüro des Spartakusbundes ein, das Britz, Rudow, Treptow und Baumschulenweg betreute. Hier stellten die Spartakisten Flugblätter her, oft mehrere am Tag, und organisierten, dass die Blätter zum Beispiel vom Rathausturm geworfen und Lastwagenladungen von Zeitungen verteilt wurden. Im Nachbarhaus Neckarstraße 2 hatte die SPD Neukölln ihr Büro. Von dort aus wurde „Der Vorwärts“ vertrieben. Die Nachbarn sahen sich also, stritten, tauschten Informationen aus. Otto Franke, der im Oktober 1917 von der Ostfront desertiert war und sich nach Berlin durchgeschlagen hatte, gehörte zu den leitenden Kräften der revolutionären Obleute. Bei Franke, in der Boddinstraße, fanden geheime Treffen statt. Er war Karl Liebknechts Vertrauensmann.
„Am 9. November wurden sämtliche Schutzleute in Neukölln entwaffnet und entlassen“, berichtet Willy Wille, der als Spartakist und Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats Neukölln an der Revolution teilnahm. „Jedes Revier erhielt einen uns zuverlässig erscheinenden Genossen als Revierleiter, dem ‘Deserteure’ und Urlauber in genügender Zahl beigegeben waren, die den Straßendienst versahen. Beim Durchsuchen der Kellerräume des Polizeipräsidiums (Sonnenallee, Ecke Wildenbruchstraße) hatten wir festgestellt, dass in der Heizungsanlage nicht Zeitungspapier und dgl. verbrannt worden war, sondern Akten über Inhaftierte. Als am 11. oder 12. November unser Bericht über diesen Befund im Arbeiter- und Soldatenrat zur Sprache kam, beantragte der Vorsitzende, den Polizeipräsidenten zu erschießen. Nach einer unendlich langen Debatte, in der sich die besten Redner der ‚Scheidemänner’ für den Polizeipräsidenten einsetzten, wurde der Antrag abgelehnt.“
Rixdorf, seit 1899 selbstständige Stadt, wurde 1912 in Neukölln umbenannt, um den Ruf der Stadt als Hochburg von Kriminalität und schlechten Sitten abzustreifen. 1920 wurde es Teil von Groß-Berlin. Neukölln war Schlafstadt für die Arbeiter Berlins und Zentrum der Arbeiterbewegung, 1918 bildete es eine Hochburg der Kriegsgegner in der Sozialdemokratie, die sich in der Spartakusgruppe organisierten. Am 9. November „hatten sich die Herren des Neuköllner Magistrats zu einer außerordentlichen Sitzung im Rathaus zusammengefunden. Sie saßen im Sitzungssaal und warteten auf ihre Entmachtung“, heißt es in einem Buch des Neuköllner Kulturvereins. Der Spartakist Willy Wille berichtet: „Ende November fand eine Sitzung des Arbeiter- und Soldatenrates im Neuköllner Rathaus statt, in der es darum ging, Geldmittel zu beschaffen, um in Not geratene Arbeiterfamilien zu unterstützen. Haberland, der Vorsitzende des Arbeiter- und Soldatenrates, der zu unserer Fraktion des Spartakusbundes gehörte, beantragte, sämtliche Hausbesitzer Neuköllns entschädigungslos zu enteignen. Ein unbeschreibliches Durcheinander entstand. Am anderen Tage brachten mehrere Berliner Zeitungen Artikel mit fetten Überschriften, wie ‚Neu-Moskau enteignet sämtliche Hausbesitzer!’“