Die Stationierung von Erstschlagwaffen gegen Russland in Deutschland war lange geplant

Die Lüge über die Raketenlücke

Karin Schröter

Am Rande des Gipfels zum 75. Jahrestag der NATO in Washington kündigten die USA und Deutschland am 10. Juli an, ab 2026 in der BRD landgestützte Flugkörper mittlerer und kürzerer Reichweite zu stationieren. Gemäß der Maxime von Außenministerin Annalena Baer­bock: „Egal, was meine deutschen Wähler denken.“ Es handelt sich um:

  • das System SM-6 des USA-Rüstungskonzerns Raytheon mit zweistufigen Feststoffraketen in der landgestützten Version zur Bekämpfung von Luftzielen (Flugzeuge, Sprengköpfe ballistischer Raketen, Marschflugkörper, Drohnen) mit einer Reichweite von 370 bis 460 Kilometern. Sollte – frühestens 2027 – die neueste Version SM-6 Block IB mit Hyperschalltechnik eingeführt werden, könnte sich die Reichweite auf 1.600 Kilometer erhöhen.
  • das System BGM-109 Tomahawk in der Version Block IV, ebenfalls von Raytheon, zur Bekämpfung von Landzielen mit einer Reichweite von bis zu 2.800 Kilometern.
  • das noch in der Entwicklung befindliche System weitreichender (bis zu 2.800 Kilometer) Hyperschallraketen Dark Eagle des USA-Rüstungskonzerns Lockheed Martin zur Bekämpfung von Landzielen.

Die Truppenkörper dieser Systeme sollen in der 2. aufgabenübergreifenden Einsatzgruppe (Multi-Domain Task Force/MDTF) zusammengefasst und mit ihren gegenwärtig noch 400 US-Soldaten vom Hauptquartier im Wiesbadener Stadtteil Mainz-Kastel geführt werden. Die Streitkräfte der USA planen insgesamt die Installierung von fünf aufgabenübergreifenden Einsatzgruppen. Die vier weiteren Standorte liegen im Bundesstaat Washington, auf Hawaii, in Colorado und in North Carolina.

Gegen Russland und China

Die 2. MDTF in Wiesbaden gehört zu dem am 8. November 2021 reaktivierten 56. Artilleriekommando, das 1972 als 56. Artilleriebrigade aufgestellt worden war. Diese Brigade bestand 1983 aus drei Bataillonen und insgesamt 108 MGM-31 C Pershing 2, also neben den 464 BGM-109 Tomahawk der zweiten Komponente des nuklearen Mittelstrecken-Offensivpotenzials der NATO gemäß „Doppelbeschluss“ vom 12. Dezember 1979.

Diese Zusammenhänge sagen alles:

  1. Die Aufstellung der 2. MDTF mit ihren in den strategischen Bereich reichenden Fähigkeiten gegen Russland (die anderen MDTF unter anderem gegen die VR China) wurde jahrzehntelang geplant und vorbereitet. Und zwar lange vor dem Eingreifen Russlands am 24. Februar 2022 in den von den ukrainischen Nationalisten mit maßgeblicher Unterstützung durch offen bekennende starke faschistische Kräfte im April 2014 entfesselten Ukraine-Krieg.
  2. Die 2. MDTF knüpft, klar erkennbar an ihrem „Kosenamen“ „Stark wie Pershing“, unmittelbar an das an, wofür die nuklearen NATO-Mittelstreckensysteme in den 80er Jahren aufgestellt worden waren: In einem nuklearen Erstschlag gegen strategisch primäre Ziele, vor allem politische und militärische Führungszentralen und Gegenschlagspotenziale, „dem sowjetischen Huhn den Kopf abzuschneiden“.
  3. Die Kündigung des Vertrages zwischen den USA und der UdSSR über die Liquidierung ihrer Raketen mittlerer und kürzerer Reichweite (INF-Vertrag) vom 8. Dezember 1987 am 1. Februar 2019 durch die Trump-Regierung hatte nie etwas zu tun mit angeblichen Vertragsverletzungen durch Russland. Sie steht ganz offensichtlich ausschließlich im Zusammenhang mit der erneuten Schaffung eines strategischen Angriffspotenzials der USA von Westeuropa aus gegen Russland und von andernorts gegen die VR China. Das ist es, was die Welt jetzt mit den MDTF erlebt.

Jederzeit nuklear umrüstbar

Die 2. MDTF verfügt neben den Unterstützungseinheiten über ein Bataillon Luftverteidigung mit dem System SM-6 und ein „Strategisches Feuerbataillon“. Dieses besteht aus einer Batterie mit HIMARS-Raketenwerfern, einer Batterie Dark Eagle und einer Batterie „Kapazität mittlerer Reichweite“. Letztere basiert auf einem in der Entwicklung befindlichen Startsystem „Typhoon“ und kann die Marschflugkörper Tomahawk als auch, zur Luftverteidigung, die SM-6 verschießen. Die Batterie mit HIMARS-Raketenwerfern bringt bisher die Boden-Boden-Raketen ATACMS mit einer Reichweite von bis zu 300 Kilometer zum Einsatz. Gegenwärtig wird an einem Nachfolgemodell unter der Bezeichnung Precision Strike Missile (PrSM) gearbeitet, das eine Reichweite von bis zu 700 Kilometern, später vielleicht bis zu 1.000 Kilometern, besitzen soll. Bei alledem muss man wissen: Zumindest die Tomahawk sind jederzeit auf Nuklearsprengköpfe umrüstbar.

Eine neue Runde der Hochrüstung ist eingeläutet. Dafür hebelt man auch noch die bürgerliche Demokratie aus, indem das Ganze nicht einmal im Bundestag behandelt werden soll. Man will keine Debatte in der Bevölkerung auslösen. Denn schon jetzt sind 49 Prozent gegen und nur 45 Prozent für Stationierung neuer US-Raketen hierzulande. Im Osten mit seiner jahrzehntelangen Friedenserziehung seit 1945 sind sogar nur 23 Prozent dafür und 74 Prozent dagegen.

Nun muss natürlich eine passende Begründung her. Bundeskanzler Scholz lieferte sie beim NATO-Gipfel mit den Worten: „Wir wissen, dass es eine unglaubliche Aufrüstung in Russland gegeben hat, mit Waffen, die europäisches Territorium bedrohen.“

Scholz: „Lange vorbereitet“

Abgesehen davon, dass Moskau schon seit 1945 zum Selbstschutz über Waffen verfügt, die weltweite Reichweiten besitzen, muss man wissen: Russland, das sich in einem Krieg befindet, gab 2023 für das Militär etwa 109 Milliarden Dollar aus. Die NATO hingegen über 1,3 Billionen Dollar, darunter Deutschland allein 66,8 Milliarden. Das ist eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr um rund 19 Prozent. Und dabei ist das „Sondervermögen Bundeswehr“ – 100 Milliarden Euro, verteilt auf fünf Jahre – noch gar nicht berücksichtigt. „Sondervermögen“ ist eine grobe Täuschung der Öffentlichkeit – es sind neue gigantische Schulden, die am Ende von den arbeitenden Menschen und den Rentnern bezahlt werden müssen. Diese Schulden bedeuten nichts anderes als eine Kombination von Kriegsvorbereitung und Sozialabbau – Kanonen statt Butter!

Scholz gab in seiner Erklärung noch etwas ganz Besonderes zu: „Diese Entscheidung ist lange vorbereitet und für alle, die sich mit Sicherheits- und Friedenspolitik beschäftigen, keine wirkliche Überraschung …“

Tatsächlich: Das MDTF-Programm hat eine lange Geschichte. Bereits die erste Regierung von George W. Bush junior hat Teile davon Anfang der 2000er Jahre mit dem Projekt „(Intermediate Range) Conventional Prompt Strike“ (IRCPS bzw. CPS) in Gang gesetzt. Und, ganz wichtig: Bereits am 13. April 2021, also lange vor dem Eingreifen Russlands in den Ukraine-Krieg, kündigten die US-Landstreitkräfte die Stationierung der 2. MDTF in Deutschland an. Am 16. September 2021 wurde der Truppenteil in der Lucius-D.-Clay-Kaserne in Wiesbaden-Erbenheim aktiviert. Es geht, ganz unabhängig vom Ukraine-Krieg, darum, Deutschland kriegstüchtig zu machen.

Es ist die alte – bei viel zu vielen Menschen aber leider verfangende – Lüge von der „Bedrohung aus dem Osten“, die aus der Mottenkiste gezogen wird, um den ebenso alten Hochrüstungs- und Kriegsvorbereitungskurs der NATO zu „begründen“. Und alle staatstragenden Parteien machen mit: Von CDU/CSU über SPD, FDP und selbstverständlich auch die AfD bis hin zu den besonders aufrüstungs- und kriegsbesoffenen Grünen. Entsprechend schrieben Bundeswehrautoren schon 1972: „Gelingt es nicht, eine Bedrohung des Westens durch die (damaligen – K. S.) Warschauer-Pakt-Staaten nachzuweisen, wird unsere Arbeit von vornherein in allen ihren Teilen unglaubwürdig.“

Die „Lücken“-Propaganda

Die Hochrüster haben wieder einmal eine „Lücke“ entdeckt – diesmal bei der weitreichenden Luftverteidigung und (erneut) bei den Raketen mittlerer Reichweite. Beide existieren nicht, sie gab es schon beim sogenannten Nachrüstungsbeschluss von 1979 nicht. Solche „Lücken“ zur Verdummung der Gehirne werden immer wieder konstruiert. In den 50er und 60er Jahren wurden so eine „Bomber-“ und eine „Raketenlücke“ ausgemacht, die immer nur Nebelgranaten waren.

Präsident Eisenhower in seiner Abschiedsadresse an den Kongress 1960: „Die ‚Bomberlücke’, von der vor mehreren Jahren gesprochen wurde, war immer ein Phantasieprodukt, und mit der ‚Raketenlücke’ scheint es genau dasselbe zu sein.“ Die „Lücken“ seien „lediglich Hirngespinste Verantwortungsloser“. Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre konstatierte man eine 3:1-Unterlegenheit der NATO bei den taktischen Luftflotten in Europa. Der für die Luftwaffe zuständige Stellvertretende Verteidigungsminister der USA musste schließlich eine 2:1-Überlegenheit einräumen.

Im Unterschied zu den Ängsten, die die „Lücken“-Propaganda hervorrief, hatte ein Eingeständnis von US-Außenminister Kissinger 1976 kaum noch Öffentlichkeitswirkung. Er bekannte, dass sein Land in der Kubakrise 1962 im Vergleich zur UdSSR eine Überlegenheit bei den strategischen Raketen von 5:1, bei den strategischen Bombern von 3:1 sowie eine „totale“ Überlegenheit an Kriegsschiffen besaß bei einer etwa gleichen Stärke an Landstreitkräften in Europa. George B. Kistiakowsky, Berater Eisenhowers und einer der Väter der US-Nuklearwaffe, empörte sich öffentlich über diesbezügliche Mythen, Fälschungen und Lügen. Sie in Frage zu stellen, war allerdings schwierig, weil nur ein relativ begrenzter Kreis von Politikern und Militärs Zugang zu den authentischen Ausgangsdaten hatte. – So ist es auch heute.

Gewinnbarer Atomkrieg?

Wir haben es also zu tun mit einem Manipulationsfeldzug von „kosmischen Ausmaßen“, um einen beliebten Ausdruck von Franz Josef Strauß zu verwenden. Und dies in einem nach dem Kalten Krieg einmaligen und äußerst gefährlichen Umfeld: Bis vor wenigen Jahren galt die Formel der fünf Ständigen Mitglieder im UNO-Sicherheitsrat von 2003: „Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf nie geführt werden.“

Nachdem schon während der Rea­gan-Administration (1981 bis 1989) Kurs auf die Gewinnbarkeit eines Nuklearkrieges gegen die UdSSR und deren Verbündete genommen worden war, werden jetzt die Weichen offenbar wieder genau darauf gestellt. Stellvertretend dafür sei eine Studie der renommierten Johns-Hopkins-Universität von 2020 zitiert: „Ein Kernwaffenkrieg ist ganz klar ein globales Katastrophenrisiko, aber es handelt sich nicht um ein existenzielles Risiko, wie es manchmal leichtfertig behauptet wird.“

Dafür gibt sich die große russophobe Aufrüstungskoalition von Ampel und CDU/CSU her. Bei der Umsetzung des NATO-Raketenbeschlusses von 1979 hatte man die offensiven nuklearen Mittelstreckensysteme noch auf vier weitere Paktmitglieder verteilt, um den Anschein einer Risikopartnerschaft zu erwecken. Heute, und das ist besonders verwerflich, nimmt Berlin die „wichtige Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt“, „eine Entscheidung der Vereinigten Staaten“ (Olaf Scholz) ganz allein auf die eigene Kappe. Ist man wirklich nichts weiter als ein „Vasall“ Washingtons, wie der führende und heute noch überaus maßgebende USA-Globalstratege Zbigniew Brzeziński die Verbündeten der USA bezeichnete?

Kriegstüchtig wie die Wehrmacht

Und auch das gehört zur Kriegstüchtigkeit, die erzwungen werden soll: Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit wurden am 12. Juli durch das Verteidigungsministerium „Ergänzende Hinweise“ zu den „Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege“ der Bundeswehr in Kraft gesetzt – und unmittelbar danach zurückgezogen. Der Versuch spricht Bände.

Im Erlass von 2018 waren noch Grenzen zur Wehrmacht gezogen worden – mit zugelassenen und in der Praxis rege in Anspruch genommenen Ausnahmen. Grenzen wurden übrigens auch zur NVA der DDR gezogen – ohne Ausnahmen. In der kassierten Ergänzung zum Traditionserlass gab es nun wieder eine direkte Anknüpfung an die Wehrmacht Hitler-Deutschlands, mit der Kriegstüchtigkeit gegen Russland produziert werden sollte: „In der Traditionspflege der Bundeswehr mit Bezug zur Zeitenwende kommt der Gründergeneration der Bundeswehr eine bedeutende Rolle für traditionsstiftende militärische Exzellenz zu. Die rund 40.000 von der Wehrmacht übernommenen ehemaligen Soldaten hatten sich zu großen Teilen im Gefecht bewährt und verfügten somit über Kriegserfahrungen, die beim Aufbau der Bundeswehr unentbehrlich waren.“

Traditionsstiftend sollte also wieder einmal eine Truppe werden, deren hauptsächlichste Einsatzräume im Vernichtungskrieg gegen die So­wjet­union mit am Ende 27 Millionen toten Sowjetbürgern lagen und die im Zusammenspiel mit SS und Einsatzgruppen auch am etwa 10-Millionen-fachen Mord hinter der Front an Juden, Sinti und Roma, Kommunisten, Widerstandskämpfern, Russen, Ukrainern und Angehörigen anderer Völkerschaften beteiligt war. Ein Rückfall in die Zeit des ersten „Traditionserlasses“ von 1965 mit dessen Entlastung, ja Reinwaschung der Wehrmacht und Stilisierung zum Vorbild der Bundeswehr, den man eigentlich nicht mehr für möglich gehalten hätte. Er steckt in den Köpfen derer, die dieses Land kriegstüchtig machen wollen.

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"Die Lüge über die Raketenlücke", UZ vom 23. August 2024



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