Der Autor war durch einen Auftrag an die Karl-Marx-Bühne in der Kunst-und-Kultur-Halle gebunden und erwähnt daher nur die Künstlerinnen und Künstler, die dort aufgetreten sind. Die Schlussfolgerung gilt natürlich für alle, die das Fest zu einem Kulturereignis werden ließen.
Es war wieder ein großartiges Fest der Solidarität, des Kampfes gegen Krieg und Faschismus, unser UZ-Pressefest 2018. Kluge Leute stellten ihre Analysen vor, Gewerkschafter tauschten sich über den Kampf für bessere Arbeitsbedingungen aus, Aktivisten sozialer Bewegungen diskutierten ihre nächsten Schritte. Daneben zeigten fortschrittliche Künstlerinnen und Künstler, dass es eine Kultur des Widerstands gegen die herrschenden Verhältnisse gibt, eine Kultur der arbeitenden Menschen.
Stimmt das denn, zeigten sie es „daneben“? Liest man die Berichte über das Fest, dann scheint das Fest gespalten in ein „inhaltliches“ und ein „kulturelles“ Programm. Aber jede Künstlerin und jeder Künstler, der und die bei unserem Fest auftritt, gibt doch alleine schon dadurch eine politische Erklärung für Frieden und Solidarität ab und nimmt dafür möglicherweise Nachteile in Kauf, denn karrierefördernd im Mainstream ist das nicht. Die kulturellen Beiträge vermitteln Erfahrungen, Erkenntnisse, Argumente. Sie zeigen im Schönen, was sein könnte, und in der Darstellung des Hässlichen das Verlangen nach Harmonie, gleich ob in Bild, Wort oder Ton. Selbst die „Spaßband“, die Fröhlichkeit vermittelt und die Menschen zum Tanzen bringt, vermittelt doch eine Ahnung von der Zeit, wenn einmal „die Arbeit eine Feier und die Feier eine Arbeit“ sein wird und vermisst die Strecke, die bis dahin noch zurückgelegt werden muss. Die Kunst, die Kultur ist nicht unpolitischer oder weniger nützlich für die Kämpfe unserer Zeit als die Debatte oder die Aktion. Das zu erkennen ist es, was das Publikum leisten muss.
Hinderlich dabei ist der Begriff des „Spielens“. Eine Schauspielerin, eine Band „spielt“. So ist der Sprachgebrauch, der das Dargestellte als Zufälliges, als vom Himmel Gefallenes oder durch den Kuss der Muse Hervorgebrachtes in die Sphäre des Übermenschlichen hebt. Das ist Unsinn, leider gängiger.
Auf der Karl-Marx-Bühne in der Eislaufhalle trat Gina Pietsch auf, begleitet von ihrer Tochter Frauke Pietsch am Piano. Der Zeitpunkt war von den Organisatoren schlecht gewählt, die Stuhlreihen waren nur vorne und auch da dünn besetzt. Gab uns die Künstlerin deshalb nur ein Fünftel ihrer Kunst? Nein, auch die vielleicht fünfzig, die das Publikum bildeten, bekamen 100 Prozent – und aus Holz oder einem spröderen Stoff muss sein, wen die beiden Künstlerinnen nicht berührt haben. Dann eine kleine Episode, die Beachtung verdient: Am Rande des Bühnenraums war jemand, recht geräuschvoll, sehr mit seinem Smartphone beschäftigt. Gina wandte sich von der Bühne herab an ihn, nicht einmal sonderlich scharf: „Kannst du bitte etwas leiser sein? Ich arbeite hier.“
Arbeit, das ist ein zentraler Begriff unserer Weltanschauung. Als zweckmäßige, bewusste Tätigkeit ist sie laut Friedrich Engels die „erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen Grade, dass wir in gewissem Sinn sagen müssen: sie hat den Menschen selbst geschaffen“. Was wir auf der Bühne erleben, was wir hören, sehen oder lesen ist das Ergebnis eines langen Arbeitsprozesses. Deshalb spricht man auch von einem Werk. Sind wir, das Publikum, uns dessen bewusst, begegnen wir dem Werk der Künstler mit derselben Achtung, die wir – hoffentlich – den lohnarbeitenden Menschen entgegenbringen?
Wenige Stunden vorher hatte Erich Schaffner, der von Georg Klemp am Piano begleitet wurde, auf dieser Bühne etwas richtiggestellt. Im Programmheft des Pressefestes war er vorgestellt worden als „proletarischer“ Künstler – die Anführungszeichen waren bestimmt keine böse Absicht, aber wir sind gewohnt, sie als ironisierend zu verstehen, wenn sie nicht die wörtliche Rede anzeigen. Erich präzisierte: „Ich habe gesagt, ich gehöre zum künstlerischen Proletariat – das ist etwas anderes. Vielleicht werde ich besser verstanden, wenn ich sage: Wir gehören zum künstlerischen Prekariat – wir sind Tagelöhner.“ Diese Bestimmung des sozialen Orts trifft auf viele der Künstler zu, die auf dem Pressefest auftraten oder ihre Werke zeigen. Wenn wir gegen Ausgrenzung durch Prekarisierung protestieren, sollten wir sie dabei mitdenken.
Die „Grenzgänger“: sie machten uns in Musik und Gesang die anarchische Lust des jungen Marx am Umwerfen knechtender Zustände fühlbar. Wer erlebt hat, wie bei der Tonprobe von Quijote drei Individuen binnen einer halben Stunde zu einem einheitlichen Klangkörper verschmelzen, der weiß beim Auftritt der Chemnitzer: Solche Intensität zu erlangen fliegt niemandem zu, das ist hart erarbeitet, vielleicht sogar erkämpft. Ebenso wie beim Weber-Herzog-Musiktheater, das uns mit seinem Programm einen schwierigen analytischen Text sinnlich erfahrbar machte. Ein Werk der Weltliteratur und höchste Sprechkunst kamen zusammen als Rolf Becker das „Manifest der Kommunistischen Partei“ las. Stimmführung und Gestik erhellten den Text und machten Verborgenes sichtbar, so hat noch keiner unter den Zuhörern das „Manifest“ vorher gekannt. Wie viele Stunden Quellenstudium, wie viel Schauspielkunst und Theatererfahrung dafür nötig sind, wir werden es nicht erfahren.
Künstler erscheinen uns, da sind wir vom allgegenwärtigen Starkult beeinflusst, auf die Entfernung als übergroß. Kommt man ihnen näher, wird ihr Maß menschlich, sie sind unseresgleichen und das macht die Größe ihrer Leistung sichtbar. Was anders ist an ihnen: Sie haben die Idee und ihr Talent bestimmt das Wie, mit dem sie ihre Botschaft zu Papier, auf die Leinwand oder die Bühne bringen. Dazwischen steht die harte schöpferische Arbeit. Künstler sind freigiebig, sie teilen ihre Erkenntnisse mit uns und lassen uns lernen mit Genuss. Das ist mehr als Zierrat und Girlanden um den politischen Inhalt herum. Wir sollten sie höher schätzen.