Edward Munchs „Der Schrei“ muss im Kontext seiner Zeit gesehen werden

Die Kunst tritt ein ins Zeitalter des Imperialismus

Edvard Munchs „Der Schrei“ (1893) spricht uns heute wieder mit größter Intensität an. Wie kam es zu diesem Bild? In seinen Tagebuchaufzeichnungen vermerkte Munch im September 1892, in Kristiania (Oslo), ein ihn erschütterndes Erlebnis: „Eines Abends lief ich auf einem hügeligen Pfad in der Nähe von Kristiania – mit zwei Kameraden. Es war eine Zeit, in der das Leben meine Seele aufgerissen hatte. Die Sonne ging gerade unter – war in Flammen am Horizont untergetaucht. Sie war wie ein flammendes Schwert aus Blut, die Wölbung des Himmels durchschneidend. Der Himmel war wie Blut – in Feuerstreifen zerschnitten –, die Berge färbten sich tiefblau, der Fjord in kalten blauen, gelben und roten Farben – das explodierende blutige Rot – auf dem Weg und dem Geländer – meine Freunde färbten sich gleißend gelb weiß – ich fühlte einen großen Schrei – und ich hörte, ja, einen großen Schrei – die Farben in der Natur – brachen die Linien der Natur – die Linien und Farben vibrierten mit Bewegung – diese Schwingungen des Lebens brachten nicht nur mein Auge in Schwingungen, sie brachten auch meine Ohren in Schwingungen – so hörte ich tatsächlich einen Schrei – ich malte das Bild Geschrei dann.“

Dieses Erlebnis liegt Munchs weltberühmtem Kunstwerk zugrunde. Seine ikonische Figur vernimmt einen erschütternden Schrei. Warum hat sich dieses Bild so unauslöschlich in das kollektive Gedächtnis der Menschengemeinschaft eingeprägt? Wie genau wird das Entsetzen im Gemälde mit größter Eindringlichkeit festgehalten?

Es ist nicht ganz eindeutig, ob die Figur den Schrei nur hört oder auch selbst vor Verzweiflung schreit, doch scheint dies wahrscheinlich. Die Hände bedecken die Ohren, um sich vor dem Schrei zu schützen, doch ist diese Geste gleichzeitig Ausdruck eigenen Entsetzens. Der Künstler macht klar: Dieser Schrei ersteht in der Natur; er ist damit etwas zutiefst Elementares.

Die Beschreibung in Munchs Tagebuch ist anschaulich und enthält bereits Aspekte des Gemäldes. Rot und Blut wird mehrmals erwähnt – hinzu kommen Bezüge auf Flammen, Feuer, selbst der Fjord und die Berge sind in „das explodierende blutige Rot“ getaucht. Der blut-, feuer- und gewalttriefende Himmel nimmt ein Drittel des Bildes ein und strahlt aus auf die dunklen Berge und den Fjord, der vor allem die gelbe Farbe des Feuerhimmels reflektiert und an den Ufern in rötlichem Braun und Blautönen von den Bergen und der Stadt Kristiania umrandet wird. Die Stadt selbst ist nur äußerst vage angedeutet.

Die deutlich erkennbaren, geschwungenen Linien der Pinselstriche in Öl und Tempera sowie Hervorhebungen mit Pastellkreide, die direkt auf braunen, ungrundierten Karton aufgetragen sind, erfassen die Bewegung und die Schallwellen des Schreis. Diese Wirkung wird verstärkt durch den grellen Hell-Dunkel-Kontrast sowie den Gegensatz von leuchtenden und gebrochenen Farben. So bekommt die Natur einen düsteren Charakter, assoziiert Gefahren, Bedrohung.

Das Schmerzhafte des Schreis wird unterstrichen durch die kollidierenden Formen: Auf zwei Dritteln des Bildes dominieren Schwingungen, Kurven, Abgründe; ein Drittel wird gefüllt von den schnurgeraden Linien der Brücke und den horizontalen Verstrebungen des Geländers. So ist das Bild in zwei große, kontrastierende Dreiecke geteilt: eines gehört der aufschreienden Natur, die trotz allem mit ihren weichen, fließenden Linien auch Menschen beherbergen kann. Das kleinere Dreieck linkerhand des Brückengeländers wird von straffen, harten Diagonalen bestimmt, die das Bild wie ein Pfeil durchlaufen. Durch diese Kollision zwischen den weich geschwungenen Wellen und den harten Diagonalen werden die Vibrationen, von denen der Maler in seinem Tagebuch spricht, nahezu hörbar.

Eine Trichterform aus dunklem Blau innerhalb der Natur, deren Spitze auf den Kopf des Schreienden zuläuft, lässt das Gefühl eines unentrinnbaren Sogs entstehen, wie ein schwarzes Loch, dessen sich allein der Erschütterte bewusst ist. Die Bewegung des Strudels auf den Schädel hin deutet darauf, dass die Katastrophe allein von seinem Bewusstsein wahrgenommen wird, nicht von anderen Menschen, die dennoch davon betroffen sind, denn auch die Stadt Kristiania gerät in den alles verschlingenden Sog. Die Abzäunung der Brücke hin zum Abgrund ist ziemlich offen und bietet keine Absturzsicherung.

Der skeletthafte Kopf befindet sich in der Bildmitte. Munch verwendet kaum Farben, um dieses Antlitz zu gestalten, belässt einen Großteil einfach bei dem unbemalten braunen Malgrund. Der vor Entsetzen weit aufgerissene Mund beherrscht das Gesicht, sparsamst sind Nase und Augen angedeutet, weiße Pastellkreidestriche zeichnen die Konturen des Schädels nach, der Augenhöhlen, der Kiefer, und vertiefen den Eindruck des Skeletthaften, auch die Hände erinnern an Knochen.

Der Rest des Körpers ist nur skizzenhaft realisiert – die kittelhafte Bekleidung der Figur ist an die Farben des verschlingenden Trichters angelehnt und wird ab Brusthöhe gestaltlos, körperlos. Der Schädel scheint etwas zu groß für den Leib, fast zu schwer. Während der Kopf über dem Geländer ins dunkle Dreieck ragt, befindet sich der Körper unter dem Brückengeländer mit seinen strikten Linien in das obere Drittel des linken Bildrandes. Die dreifache Geländerverstrebung verbindet damit die Gestalt im Vordergrund direkt mit den beiden dunklen, deutlich kleineren Figuren, die in geringer Entfernung im Hintergrund gehen. Zylinderhüte deuten auf zwei konventionell gekleidete, gesichtslose Männer hin, wobei unklar ist, ob sie sich von den Betrachtern entfernen oder einer ihnen entgegenkommt. Diese beiden Menschen, auf die der Pfeil der Diagonalen zuläuft, erhalten dadurch einen Impuls, dem Gemarterten zu helfen, werden so in das Geschehen einbezogen. Doch hören sie den Schrei nicht – weder die Verzweiflung der Natur noch den Aufschrei ihres Mitmenschen. Hilfe oder Empathie ist von ihnen nicht zu erwarten.

Eine weitere Doppelung, die im Gegensatz zu der Vereinzelung des Gepeinigten steht, sind zwei Boote auf dem Fjord: ein scheinbar friedlicher Genuss des Abends, vielleicht auch abendlicher Fischfang. Die Natur ist nicht menschenleer, sondern schließt menschliche Tätigkeit ein.

Allein der aus tiefster Not Schreiende spürt die drohende Apokalypse. Während die bürgerlichen Mitmenschen also eine scheinbar idyllische Landschaft im Abendrot erleben, dem bluttriefenden Himmel gegenüber völlig immun sind, steht für die gequälte Kreatur die Welt in Flammen. Unter der Oberfläche der friedlichen Welt herrscht das Entsetzen. Man kann den vertrauten Zeichen nicht mehr glauben: Rot, die Farbe der Liebe und Wärme, transportiert nun Feuer und Blut. Der Himmel bietet keinen tröstlichen Anblick, sondern ist zutiefst bedrohlich. Doch nur der Künstler nimmt dies wahr. Munch schrieb mit Bleistift in einen roten Streifen am Himmel: „kan kun være malet af en gal mand“ („kann nur von einem verrückten Mann gemalt worden sein“). Der Maler sorgte sich zeitlebens, seinen Verstand zu verlieren und verbrachte auch Zeiten in psychiatrischer Behandlung. Doch das Entsetzen, für das er mit diesem Kunstwerk Augen und Ohren der Betrachter sensibilisiert, spiegelt die Ängste des Individuums und erfasst zugleich den Wahnsinn der Epoche, die auf den Abgrund zusteuert.

Edvard Munch hält in seinem Tagebuch ein persönliches, ihn zutiefst beunruhigendes Erlebnis fest. Auch auf dieser privaten Ebene spricht das Gemälde Betrachter seither an. Doch ergibt sich aus unserer historischen Perspektive eine weitere Dimension, die Munch und seinen Zeitgenossen sicher nicht so klar war, die sie nur erahnen konnten. „Der Schrei“ entstand zu Beginn des imperialistischen Zeitalters, seinen dazugehörigen tiefgreifenden sozialen und politischen Umwälzungen. Auch darin liegt die Eindringlichkeit begründet, mit der uns dieses Kunstwerk heute so verstörend anspricht.

Ende des 19. Jahrhunderts war ein neues, internationaleres, aggressiveres Stadium des Kapitalismus im Entstehen begriffen. Die Welt wurde neu aufgeteilt, mit zunehmendem technologischen Fortschritt und ansteigender urbaner Verelendung warf der erste Weltkrieg seinen Schatten lange voraus. Zwischen 1892 und 1894 lebte der Künstler in Berlin. Denkbar, dass sich durch den Aufenthalt in dieser Metropole nicht lange nach der Reichsbildung unter Bismarck, als auch der deutsche Imperialismus rasant erstarkte, die Wahrnehmung des Malers einer unguten Zeit verstärkte. Alles schien außer Kontrolle zu geraten. Der Nihilismus, der auch Munch tangierte, gewann neuen Nährboden mit seiner antihumanistischen Idee der Bedeutungslosigkeit des Lebens. Es passte den Herrschenden der Epoche, dass die Welt nicht mehr begreifbar schien.

Der irische Dichter William Butler Yeats reflektierte 1919: „Drehend und drehend sich im weitenden Kreisel/Kann der Falke den Falkner nicht hören;/Alles zerfällt; die Mitte hält es nicht./Ein Chaos, losgelassen auf die Welt,/Die Flut, bluttrüb, ist los, und überall/Ertränkt der Unschuld feierlicher Brauch;/Die Besten zweifeln bloß, derweil das Pack/Voll leidenschaftlichem Erleben ist.“ Als Yeats diese Zeilen schrieb, hatte der Imperialismus bereits zum ersten großen Weltkrieg geführt. Munch erlebter als junger Erwachsener das Entstehen dieses neuen, imperialistischen Stadiums des Kapitalismus. Vereinfacht, schreibt Lenin, könne man den Imperialismus folgendermaßen definieren: „Der Imperialismus ist der Kapitalismus auf jener Entwicklungsstufe, wo die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen, die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen hat und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder abgeschlossen ist.“

Nach Lenin entstand der Imperialismus als eine spezifische Phase des Kapitalismus zwischen 1873 (noch nicht) und 1900 (etabliert): „2. Nach der Krise von 1873 weitgehende Entwicklung von Kartellen, die aber noch Ausnahmen, keine dauernden, sondern vorübergehende Erscheinungen sind. 3. Aufschwung am Ende des 19. Jahrhunderts und Krise von 1900 – 1903: Die Kartelle werden zu einer der Grundlagen des ganzen Wirtschaftslebens. Der Kapitalismus ist zum Imperialismus geworden.“

Basierend auf diesen Eckdaten kann man davon ausgehen, dass das 1893 entstandene, weltweit bekannte Gemälde diesen Übergang in den Imperialismus künstlerisch erfasst. Damit soll keinesfalls behauptet werden, dass der Maler sich dieser Sachlage bewusst war, sondern vielmehr, dass die gro-ße Sensibilität Munchs bewirkte, was Shakespeare von wahrer Kunst forderte: „… dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen.“ Es soll auch nicht in Abrede gestellt werden, dass persönliches Befinden mit in das Kunstwerk einfließt, doch seine überragende Bedeutung besteht darin, dass Munch – indem er sich seinen eigenen Ängsten, Schmerzen stellte – diesen Aufschrei der gequälten Kreatur als ein definierendes Moment dieses Zeitalters so gestaltete, dass Menschen auf der ganzen Welt auch heutzutage ergriffen sind.

Während also vom Gegenstand des Bildes her genau das dargestellt wird, was die meisten bürgerlichen Kunstkritiker beschreiben, nämlich, dass ein Mensch auf einer Brücke bei Oslo steht und einen ihn existentiell betreffenden Schrei vernimmt (und selbst schreit), trägt die Entstehungszeit des Gemäldes entscheidend zu seiner Bedeutung bei. Dieser Schrei ist wesentlicher Teil der Bildidee, des geistigen Gehalts, und so prägt er folgerichtig die Farbkonzeption, die Komposition, die Gliederung, die Spannungsverhältnisse, wird zu etwas Außergewöhnlichem, das die alltägliche Erfindung in Richtung Entsetzen und Verzweiflung steigert. Munch löst sich in der Form seiner Malerei vom Impressionismus und beschreibt eine zerrissene Welt aus der Perspektive persönlicher Wahrnehmung. Die Kunst tritt ein ins Zeitalter des Imperialismus.

Der Künstler schuf insgesamt vier weitere Fassungen des Bildes sowie eine Lithographie. Seit seiner Entstehung vor 130 Jahren hat sich dieses Werk Munchs wie die „Mona Lisa“ oder „Guernica“ in das Bildgedächtnis der humanistischen Menschheit eingeprägt. Munchs Bild ruft eindringlich in uns eine Betroffenheit hervor, die unsere Menschlichkeit ausmacht.Wir erleben sie, wenn wir von Naturkatastrophen und persönlichen Tragödien hören, aber vor allem über das unermessliche Leid und den Terror gemarterter Menschen in Kriegsgebieten. Das verzweifelte, schreiende Antlitz wird sich 1937 in Picassos „Guernica“ gleich dreifach wiederfinden – in der Mutter mit dem toten Baby, dem brennenden Menschen, dem gequälten Pferd, Szenen, die bis heute durch imperialistische Gewalt und Kriege verursacht werden. Munch hat diesem Entsetzen bildkünstlerischen Ausdruck verliehen. Jeder Einzelne kann sich in diesem Bild sehen und zugleich die humanistische Dimension wahrnehmen, die uns als Menschheit verbindet – in Solidarität und Mitgefühl. „Der Schrei“ gibt einer tiefen Emotionalität und Menschlichkeit Ausdruck, die seine Größe ausmachen.

Die Autorin dankt Friederike Riese und Erwin Ritzer für ihre bereichernden Hinweise.

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"Die Kunst tritt ein ins Zeitalter des Imperialismus", UZ vom 8. Dezember 2023



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