Die Dialektik als Seele der kommunistischen Weltanschauung und ihre Nützlichkeit in Debatten über den Sozialismus und China. Ein Gespräch mit Bruno Mahlow • Teil 2 und Schluss

Die Krise hat globalen Charakter

In der vorigen Ausgabe der UZ berichtete Bruno Mahlow, von 1973 bis November 1989 Vizechef der Abteilung Internationale Beziehungen des ZK der SED, über seine persönlichen Erfahrungen in der Sowjetunion und die bis heute wirkende Bedeutung ihrer Gründung. Gegen Ende des ersten Teils des Gesprächs kamen er und Arnold Schölzel zur Frage, was aus der Niederlage des Sozialismus in Europa zu lernen sei. Mahlow zitierte eine Rede Juri Andropows aus dem Jahr 1983, in der er kritisierte, dass die KPdSU die gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten des Sozialismus noch nicht erfasst habe und sich nur experimentierend vorantaste.

UZ: Im Grunde lautet ja Andropows Vorwurf, dass versäumt wurde oder dass man inzwischen sogar unfähig war, die ökonomische und gesellschaftliche Realität der Sowjetunion theoretisch zu erfassen. Wann begann das aus deiner Sicht?

Bruno Mahlow: Es geht nach meiner Meinung um den Verzicht darauf, unsere Weltanschauung weiterzuentwickeln. Ein Anfangspunkt war sicherlich das Jahr 1956 mit dem XX. Parteitag der KPdSU. Das war ernst. In der Rede Nikita Chruschtschows, der von 1953 bis 1964 an der Spitze der KPdSU stand, waren mehrere Dinge problematisch: zum Beispiel erstens die Proklamation der friedlichen Koexistenz ohne Klassenkampf. Zweitens: die Orientierung auf den parlamentarischen Weg zur Erringung der Macht und zum Aufbau des Sozialismus.

In Chruschtschows Herangehen an den Begriff und die Theorie des Sozialismus und Kommunismus kommt dann jener Voluntarismus zum Ausdruck, der schon in dieser Rede eine Rolle gespielt hatte. Auf dem XXII. Parteitag im Oktober 1961 wurde sogar beschlossen, bis 1970 die USA in der Pro-Kopf-Produktion zu übertreffen und bis 1980 in der Sowjetunion die kommunistische Gesellschaft im Wesentlichen aufzubauen. Festgeschrieben wurden ein Überfluss an materiellen und kulturellen Gütern sowie der allmähliche Übergang zum kommunistischen Prinzip der Verteilung nach Bedürfnissen. Die Industrieproduktion sollte auf mindestens das 6-Fache steigen, die Arbeitsproduktivität auf das 4,5-Fache, die landwirtschaftliche Produktion auf das 3,5-Fache – sie sollte schneller wachsen als die Nachfrage.

Alles zusammengenommen bedeutet das: Man hat den Gegner zunächst unterschätzt und die eigene Stärke überschätzt – und das entgegen allen Mahnungen, mit der eigenen Macht sorgfältig umzugehen.

100 Jahre UDSSR - Die Krise hat globalen Charakter - 100 Jahre Sowjetunion, Bruno Mahlow - Hintergrund

Nur ein Beispiel: Nikolai Leonow, ein sowjetischer Aufklärer, Historiker, Schriftsteller und enger Freund von Raúl Castro und Che Guevara – er ist im vergangenen Jahr gestorben –, schildert in seinem 2017 auf Deutsch erschienenen Buch „Die letzten Aktionen des KGB“, dass seine Auswertungsabteilung 1975 ein Papier erstellte, in dem sie darlegte, „dass sich die UdSSR den Luxus nicht mehr leisten kann, Mittel und Kräfte im endlosen Raum dreier Gebiete zu verschleudern: Asien, Afrika und Lateinamerika“. Nötig sei die Konzentration auf eine begrenzte Anzahl von Staaten. Leonow schrieb, die Lieferungen in die „Dritte Welt“ seien „wie ein Krebsgeschwür“ gewachsen und hätten „dem geschwächten Organismus unseres eigenen Staates die Kraft“ entzogen. Das ZK der KPdSU habe aber nicht davon abgehen können, „dass die ‚Dritte Welt‘ die Reserve des Sozialismus“ sei. Ich sage dazu: Man hätte in der Bündnisfrage anders handeln, insbesondere den jeweiligen Entwicklungsstand der Länder und Regionen berücksichtigen müssen. Das alles muss mit herangezogen werden, wenn es darum geht, das eigene Weltbild zu korrigieren und die Dinge dorthin zu rücken, wohin sie gehören.

Das Problem, das ich damit anspreche, drückte sich auch im Umgang mit dem Sozialismusbegriff aus. Auf jedem Parteitag sollte etwas Neues verkündet werden, also war der Sozialismus mal „reif“, dann „entwickelt“, dann „vollkommen“. Mit der Realität hatte das wenig zu tun. Wir haben Mao Zedong für seinen „Großen Sprung“ kritisiert, vergessen aber, dass wir selbst fortlaufend Ähnliches hervorgebracht haben.

UZ: Die Weltsicht ist entweder realistisch oder unrealistisch, folgt der dialektisch-materialistischen Philosophie und Weltanschauung oder nicht. Was muss deiner Meinung nach bei der Entwicklung unserer Weltanschauung geleistet werden?

Bruno Mahlow: Das ist auch im Hinblick auf den bevorstehenden Parteitag der DKP eine enorm wichtige Frage. Ich glaube, wir sollten als Kommunisten unbedingt zu Problemen wie „Werte des Lebens“ oder „Qualität des Lebens“ Stellung nehmen. Dafür gibt es tiefe Gründe. Du erinnerst dich: Wir haben noch im vorigen Jahrhundert einmal über einen deiner Artikel diskutiert. Darin hast du sinngemäß geschrieben, die Entwicklung der Produktivkräfte verlange neue Produktionsverhältnisse. Die objektiven Voraussetzungen für den Sozialismus seien vorhanden, es liege nun in erster Linie am subjektiven Faktor. Das ist ein sehr wichtiger Gedanke, den man immer wieder ins Spiel bringen müsste.

Auf der subjektiven Seite stoßen wir auf die Frage: Was verstehen wir unter dem besseren Leben? Welche Rolle spielt dabei der Verbrauch? Lenin soll einmal gesagt haben: Sozialismus bedeutet nicht, dass die Menschen im Überfluss leben und an einem Trog sitzen, aus dem sich alle bedienen.

Zu dieser Debatte gehört auch das, was erstmals in der Geschichte in der Sowjetunion verwirklicht wurde: kostenlose Bildung von der Krippe bis zur Hochschule, Kultur für alle und ein allen zugängliches Gesundheitswesen, die Rechte der Frauen. Als mir einmal jemand aufzählte, was wir alles verloren haben, schrieb ich ihm: „Wir haben das Recht auf Arbeit und das Recht auf Liebe verloren.“ Letzteres leuchtete ihm allerdings nicht ein, aber hinter der Gleichberechtigung der Frauen steckt die Anerkennung der Liebe von Gleichberechtigten. Fest steht: Allein diese Errungenschaften genügen, um den Sozialismus zu würdigen. Denn die Formulierung aus der „Internationale“ „Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger/Alles zu werden“ gilt heute genauso wie vor 150 Jahren. Sie besagt auch: Wir müssen alle Chancen nutzen.

UZ: Du hast den subjektivistischen Umgang mit dem Sozialismusbegriff angesprochen. Was gehört in die Debatten darüber hinein?

Bruno Mahlow: Unsere Losung „Überholen, ohne einzuholen“ wurde belächelt. Sie bezeichnet aber genau die Herausforderung, vor der wir stehen: Es geht nicht um quantitatives, sondern um qualitatives Wachstum. Wir dürfen die Errungenschaften des Kapitalismus nicht verwerfen, es kommt aber darauf an, ihn nicht nachzuäffen. Ich habe den sowjetischen Freunden dieses Nachäffen wiederholt vorgeworfen – etwa bei der Gestaltung des Fernsehens.

Und noch eins möchte ich unbedingt anführen: Zum Sozialismus gehört der Internationalismus. Er war für mich in der Sowjetunion prägend. Zu ihm gehört aber auch eine tiefe Verbundenheit mit dem eigenen Land. Als wir aus Moskau nach Taschkent evakuiert wurden, sah ich als kleiner Junge auf den Zwischenstationen Verbandsplätze der Roten Armee. Mir hat sich eingeprägt, wie Verwundete nach „Mama“ riefen – das blieb bei mir haften. Ich habe früh begriffen, warum es im Russischen „Mutter Heimat“ heißt, obwohl es auch das Wort „Vaterland“ gibt. Zu diesem Thema „Mutter Heimat“ hat der Liedermacher Oleg Gamsanow, der sein Land nicht wie die populäre Sängerin Alla Pugatschowa verlassen hat, im Sommer 2022 einen Text geschrieben, in dem er sich bei der sowjetischen Heimat entschuldigt: „Sie war keine glamouröse Diva/Und auch ihr Stammbaum war einfach./Sie dachte nie an ihr persönliches Glück,/Sie schuftete tagsüber und nachts./Sie kümmerte sich um alles gleichzeitig, auch um uns,/Zog uns, junge Nerds, auf,/Versorgte uns, so gut sie es konnte./Sie gab uns ihr Letztes./Wir nörgelten und rümpften die Nasen./Sie wollte uns das Denken beibringen,/Schenkte manchmal Jeans und Kaugummi,/Doch wir wollten immer mehr, wollten viel./Und wir dachten, sie hätte Unrecht./Wir sprachen zu ihr auf verletzende Weise./Sie sah uns schweigend in die Augen/Und ging mit einem Seufzer für immer.“ Bei der DDR hat sich noch niemand entschuldigt.

Und zur „Mutter Heimat“ gehört meine Kindheit in der internationalen „Kommunalka“ – der Gemeinschaftswohnung – in Usbekistan. Da waren der Ukrainer Onkel Fedja, seine russische Frau Tante Dusja und die armenische Ärztin Anja, die es manchmal schaffte, die Krämpfe meines gelähmten Vaters zu lindern. Onkel Fedja brachte ihn bei Erdbeben, die es dort öfter gab, auf seinen Armen die Treppen hinunter. Ich bekam in der ersten Klasse die Ruhr – und wer besuchte mich? Die Lehrerin Lydia Wassiljewna. Das hat mich schon als kleinen Jungen tief beeindruckt.

Dieser Umgang miteinander war wichtig und es fing beim Kleinkind, im Grunde beim Embryo an. Ich betone das deswegen, weil ich zum Beispiel mit dem Pfarrer Uwe Holmer, der 1990 Margot und Erich Honecker bei sich aufnahm, darüber gestritten habe, ob der Mensch von Natur aus sündig ist. Holmer hatte erklärt: „Ich habe dem Herrn Honecker gesagt: Man kann nicht alles über den Kopf des Menschen hinweg erreichen wollen. Der Mensch ist von Natur aus sündig.“ Ich hatte große Achtung vor dem Pfarrer und seiner Familie, der in der DDR Unrecht getan wurde – alle zehn Kinder durften nicht die Erweiterte Oberschule besuchen. Angela Merkel kam dagegen im Schüleraustausch sogar nach Woronesch. Es hängt eben sehr viel von den konkreten Menschen ab und wir konnten nicht alle auf einmal neu backen.

UZ: Die Einzigartigkeit der Sowjetunion bestand auch darin, dass in ihr Völker zusammenlebten, die sich unter anderen Verhältnissen kaum hätten kennenlernen können.

Bruno Mahlow: Das ist richtig. Es gab auch eine entsprechende Toleranz. Und es kommt noch etwas hinzu: Das russische Volk wurde zu einer Art Stammvolk. Es gab aber auch immer die Auseinandersetzung mit dem großrussischen Chauvinismus.

UZ: In solchen Fällen wurde Lenin sehr ungemütlich.

Bruno Mahlow: Er hat sich zum Beispiel mit Grigori Ordschonikidse auseinandergesetzt, als der gegenüber Vertretern kaukasischer Nationen handgreiflich wurde. Auf der anderen Seite muss erwähnt werden: Stalin hat sich als Georgier in die russische Geschichte vertieft, kannte die russische Kultur. Im Krieg entdeckte er die Feldherren Russlands als Vorbilder und setzte sich mit der orthodoxen Kirche zusammen. Selbst dort, wo er seine Schwierigkeiten hatte, zeigte sich, dass er seine Haltung verändern konnte. Das erklärt, warum er am 24. Mai 1945 beim Empfang für die Befehlshaber der Roten Armee einen Toast auf das russische Volk ausbrachte und angesichts der Fehler der sowjetischen Führung in den Jahren 1941 und 1942 meinte: „Ein anderes Volk hätte zu seiner Regierung sagen können: Ihr habt unsere Erwartungen nicht gerechtfertigt, macht, dass ihr fortkommt, wir werden eine andere Regierung einsetzen, die mit Deutschland Frieden schließt und uns Ruhe sichert.“ Da merkte man, wie tief in seinem Innern das eine Rolle spielte.

Aus der Geschichte kann niemand streichen, welche Bedeutung die Brüderlichkeit zwischen Russland und der Ukraine spielt, obwohl es – vor allem von der ukrainischen Seite – immer wieder Probleme gab und das Messer in den Rücken gestoßen wurde. Das galt für die Kriege Russlands mit dem Königreich Polen-Litauen, denken wir nur an Nikolai Gogols Erzählung „Taras Bulba“, in der der Vater seinen eigenen Sohn, den Überläufer von den ukrainischen Aufständischen zu den Polen, erschießt.

Ich war oft in der Ukraine – ein schönes Land und Kiew ist eine sehr schöne Stadt. Aber vergessen wurde, dass dieses Land alles, was es hat, der Sowjetmacht verdankt – angefangen bei der eigenen Staatlichkeit, die auf eine Entscheidung Lenins zurückgeht.

UZ: Und nicht zu vergessen: Von 1920 bis 1939 war die Westukraine ein Teil Polens.

Bruno Mahlow: Die Ukraine wurde stets gefördert, ihre gesamte Industrie entstand zur Zeit der Sowjetunion. Der Banditismus, den wir dort jetzt erleben, ist noch schlimmer als ich es mir vorstellen konnte. Und ich kenne das Land, zumal meine verstorbene Frau nach der Befreiung Kiews 1943 dort ihre Schuljahre verbracht hat. Ihre Pflegeeltern haben die Ukraine erst später verlassen. Ich war dort auf Hochzeiten, die kaum begonnen hatten, als es schon mit antirussischen Parolen gegen die „Moskali“ losging. Das war zu tiefster sowjetischer Zeit.

UZ: Wie siehst du die unterschiedlichen Stellungnahmen auch von Marxisten zum Krieg in der Ukraine?

Bruno Mahlow: Ich möchte dazu – und das gilt auch für viele Äußerungen zu China – deutlich sagen: All die damit verbundenen Fragen und Probleme sind eine Herausforderung für unsere Weltanschauung. Deren Seele ist die Dialektik und ich äußere mich dazu als deren Anhänger. Es geht immer wieder um die Einheit und den Kampf der Widersprüche. Die methodische Bearbeitung dieses Problems sichert zum einen das schöpferische Herangehen an die gesellschaftliche Entwicklung, das heißt, die Dinge im Zusammenhang zu sehen. Die Dialektik ist zum anderen zugleich die Voraussetzung für die Vermeidung von Dogmatismus und Opportunismus. Für mich geht aus vielen Stellungnahmen hervor, dass der globale Charakter der heutigen Krise nicht erfasst wird. Die Welt verharrt seit mehr als einem Jahrzehnt in ihr und in Kriegen. Es nützt nichts, zu einem substanzlosen Waffenstillstand aufzurufen oder Vergleiche mit dem Brester Frieden von 1918 und Lenins Bereitschaft zum Kompromiss zu ziehen. Die Situation ist eine völlig andere.

Und wenn ich immer wieder höre: Was sollen wir denn machen? Sage ich: „Wir sehen uns bei den Kundgebungen für ‚Heizung, Brot und Frieden‘.“

Teil 1 von Arnold Schölzels Interview mit Bruno Mahlow erschien in der UZ vom 13. Januar 2023.

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"Die Krise hat globalen Charakter", UZ vom 20. Januar 2023



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