26. Jahrestagung der Anna-Seghers-Gesellschaft in Berlin: „Flucht und Exil im Werk von Anna Seghers“

Die Kraft der Machtlosen

Von Eva Petermann

„Wieder soll ein Schiff untergegangen sein.“ Vielleicht wieder nur eines von vielen Gerüchten im Marseille des Jahres 1940? Täglich kommen Nachrichten von den „Schicksalen anderer Schiffe, die mit ihrer Last von Flüchtlingen durch alle Meere gejagt wurden und nie von Häfen aufgenommen …“

So etwa beginnt einer der berühmtesten Romane von Anna Seghers. In „Transit“ schildert sie das Chaos und das Ausharren, die Hoffnung und die Verzweiflung der Flüchtenden – ihre menschenunwürdige Jagd nach Papieren, nach Visa, nach dem entscheidenden Stempel auf dem entscheidenden Formular. Einen Zustand der Entwurzelung, der heute wieder für Millionen von Menschen bittere Realität ist.

So stand die 26. Jahrestagung der Anna-Seghers-Gesellschaft (ASG) in Berlin unter dem Motto „Alles war auf der Flucht, alles war nur vorübergehend“ – Zum Motiv von Flucht und Exil im Werk von Anna Seghers.

Die als Netty Reiling 1900 in Mainz geborene Autorin und ihre Familie waren selbst Verfolgte. Ihr späterer Mann Laszlo Radvany war vor dem weißen Terror in Ungarn geflohen. Ihre Mutter Hedwig Reiling wurde nach vergeblichem Bemühen um ein Visum deportiert und umgebracht; ihr Vater Isidor war kurz vorher gestorben. Anna Seghers, doppelt verfolgt als Jüdin und als Kommunistin, entkam mit ihren zwei kleinen Kindern, Ruth und Peter, zunächst nach Frankreich und später nach Mexiko. Nachzulesen ist einiges davon in den Erinnerungen ihre Sohnes in „Jenseits des Stroms“ (2005). Der nunmehr 90-Jährige Pierre Radvanyi ließ es sich auch diesmal nicht nehmen, zusammen mit seinem Sohn Jean aus Frankreich anzureisen.

Ein in den letzten Jahren stetig zunehmendes Interesse an der nach 1989 übel geschmähten kommunistischen Autorin konstatierte der Vorsitzende der ASG, Hans-Willi Ohl aus Darmstadt. Nach der Dramatisierung ihrer Erzählung „Kopflohn“ (1934) am Theater Mainz ist eine Theaterfassung von „Das siebte Kreuz“ am Frankfurter Theater angekündigt sowie die Neuverfilmung von „Transit“ durch Christian Petzold.

„Dieses Buch ist in Marseille entstanden, in den erwähnten Cafés, wahrscheinlich sogar, wenn ich zu lange warten musste, in Wartezimmern auf Konsulaten, dann auf Schiffen, auch interniert auf Inseln, in Ellis Island in USA, der Schluss in Mexiko.“

(Anna Seghers über die Entstehung des Romans „Transit“)

Wie immer gehörten Lesungen sowie die Verleihung des Anna-Seghers-Preises, diesmal an den mexikanischen Autor Yuri Herrera, zum Programm dieser wissenschaftlichen Tagung. Nur ein paar Ecken entfernt vom Tagungsort, dem altehrwürdigen Backsteinbau der Anna-Seghers-Gemeinschaftsschule (Kl. 1–13) in Adlershof, befindet sich die frühere Wohnung der Seghers, eine so gar nicht museale Gedenkstätte, betreut von der Literaturwissenschaftlerin Monika Melchert.

Das Thema Flucht bilde „56 Jahre lang durchgehend und zentral“ im gesamten Werk der 1993 verstorbenen Schriftstellerin ein markantes Kontinuum, so Helen Fehervary (Columbus University, Ohio) in ihrem Vortrag. Die Mitherausgeberin der neuen Seghers-Werkausgabe im Aufbau-Verlag belegte dies mit einem grandiosen Bogen durch deren Romane und Erzählungen.

1932, noch vor ihrer eigenen Flucht vor den Nazis, war die spätere DDR-Nationalpreis-Trägerin in „Die Gefährten“ den Lebensläufen von Revolutionären gefolgt, die nach dem Ersten Weltkrieg zu Tausenden aus Osteuropa vor der Konterrevolution fliehen mussten.

Auch der Rebell Hull in Seghers’ preisgekröntem Erstlingsroman „Der Aufstand der Fischer von St.Barbara“(1928) ist ein von der Polizei Gehetzter ebenso wie der steckbrieflich gesuchte KPD-Aktivist in „Der Kopflohn“ (veröffentlicht 1933 in Amsterdam). In d e m antifaschistischen Weltklassiker „Das siebte Kreuz“ (veröffentlicht erstmals 1942) gelingt von sieben entflohenen KZ-Häftlingen nur dem Widerstandskämpfer Georg Heisler die Flucht, nicht zuletzt dank eines feinmaschigen Netzwerks bekannter und unbekannter Helfender.

Helen Fehervary wies auf einen markanten Unterschied zu den wenigen Zeitgenossen von Anna Seghers hin, die ebenfalls die Fluchtproblematik thematisierten.

In seinem Roman „Flucht ohne Ende“ schilderte der aus Galizien stammende Exil-Autor Joseph Roth, der früh im Pariser Exil zu Tode kam, „Irrwege und Wanderungen des modernen Individuums ohne Ziel und Besonnenheit“, die bei Roth unweigerlich im „Verlust der eigenen Identität“ endeten. Seghers dagegen begreife die Problematik des entwurzelten Menschen als kollektives Phänomen. Selbst dessen Scheitern macht uns zwar tief betroffen, aber nie völlig hoffnungslos.

In poetisch-mythischer Überhöhung greift bei Seghers mitunter die Natur selbst als Verbündete ins Geschehen ein, wie in der Anthologie „Kraft der Schwachen“: als schützendes Schilfrohr, umarmendes Buschwerk oder bergende Meereshöhle.

Die große Humanistin habe die Fähigkeit, „das Leben als wesenhaft“ zu begreifen, wie es Fehervary nannte, den ungarischen Roman-Theoretiker und Seghers-Freund Georg Lukàcs zitierend. „Trotz staatlicher Übermacht und Überwältigung durch die Umstände siegen letztlich Anstand und Gerechtigkeitssinn vieler Menschen zusammen“.

In Texten nach Seghers’ Rückkehr 1947 nach Berlin (Ost) seien die Protagonisten bisweilen durch eine „existenzielle Unruhe“ motiviert, „mit einer Sehnsucht nach Ausbruch aus dem Gewöhnlichen“, sie laufen weg „nach vorn in eine unbekannte Zukunft“ – wie in „Agathe Schweigert“ oder in „Das wirkliche Blau“.

Aus dem Rahmen fallen zwei Nachkriegserzählungen. Darin unternimmt es Seghers in einem bemerkenswerten Perspektivwechsel, sich in die erbärmliche Gedankenwelt fliehender Mörder einzufühlen: den brutalen KZ-Aufseher Zillich („Das Ende“, 1946) und den Vietnamkriegs-Piloten Gary („Steinzeit“, 1975).

Aus dem Rahmen fällt außerdem ihre wenig bekannte „Reise ins elfte Reich“, ein weiterer beeindruckender Beweis der Vielseitigkeit der Autorin. Verfasst während des Pariser Exils, führt uns diese satirische Utopie in eine verkehrte Welt. Die von Land zu Land Irrenden sehen sich mit ganz unerhörten Vorgehensweisen der Behörden dieses Reichs konfrontiert. Hereingelassen wird z. B. nur, wer eben gerade keinerlei Papiere oder Empfehlungen vorweisen kann. Die Lesung von Passagen dieser Erzählung rief denn auch verblüffte Heiterkeit der Tagungsteilnehmer hervor.

Diese Seite der Seghers gefiel offenkundig auch einer Theatergruppe der Anna-Seghers-Schule, unter ihnen eine geflüchtete Schülerin aus Syrien. Ihre Aufführung selbst dialogisierter Szenen beeindruckte durch große Spielfreude und Ernsthaftigkeit.

Noch nie habe er Anna Seghers „so bunt erlebt wie an dieser lebendigen Gemeinschaftsschule“, bekannte am Schluss der ASG-Vorsitzende Hans-Willi Ohl. Die nächste Jahrestagung soll wieder in Mainz stattfinden, Thema: „Exil und Heimkehr“.

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"Die Kraft der Machtlosen", UZ vom 2. Dezember 2016



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