Gespräch mit Carolin Butterwegge zum Weltkindertag am 20. September

Die Klassengesellschaft braucht die Ungleichheit

Dr. Carolin Butterwegge ist Sozialwissenschaftlerin. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Ungleichheitsforscher Christoph Butterwegge, hat sie jüngst das Buch „Kinder der Ungleichheit – Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt“ veröffentlicht. Wie nie zuvor sei die junge Generation sozial tief zerrissen: Hinsichtlich Gesundheit, Bildung, Wohnen, Freizeit und Teilhabe verschärften sich die Unterschiede. Während Kinder aus wohlhabenden, reichen und hyperreichen Familien materielle Sicherheit genössen und eine Führungsposition in der globalisierten Wirtschaft erreichen könnten, blieben diese Chancen den Gleichaltrigen aus sozial benachteiligten Familien versagt. Carolin und Christoph Butterwegge zeigen mit ihrem ersten gemeinsamen Buch das Spektrum der Kinderungleichheit auf, ergründen die Ursachen und schlagen Gegenmaßnahmen vor.

UZ: Frau Butterwegge, Sie und Ihr Mann haben kürzlich das Buch „Kinder der Ungleichheit“ veröffentlicht. Darin kritisieren Sie, dass für Kinder und Jugendliche schon vor der Corona-Pandemie keine Chancengleichheit existierte. Woran machen Sie die bestehenden Unterschiede fest?

Carolin Butterwegge: Die soziale Ungleichheit und Spaltung, die unsere Gesellschaft kennzeichnet, macht vor Kindern und Jugendlichen nicht halt. Die einen leben im Wohlstand und einige wenige davon sogar im Reichtum. Die anderen wachsen in einkommensarmen Familien auf, die sich in benachteiligten Stadtvierteln konzentrieren. Die Lebenswelten der jungen Menschen sind immer stärker voneinander separiert, was natürlich auch für ihre Bildungs- und Betreuungseinrichtungen gilt.

UZ: Wie groß war das Problem der Kinderarmut vor Beginn der Pandemie?

Carolin Butterwegge: Unabhängig davon, welches Armutsmaß man verwendet, zeichnet sich seit 15 Jahren eine stabil hohe Kinderarmutsquote ab, die mal steigt, aber dann auch wieder etwas sinkt. Ende 2020 lebten rund 1,8 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Haushalten, die Hartz-IV-Leistungen bezogen. Diese Zahl sinkt seit 2017 geringfügig. Die Kinderarmutsquote – beziffert nach dem Anteil von Minderjährigen, die in Familien mit weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens aufwuchsen – ist von rund 18 Prozent im Jahr 2010 auf 20,5 Prozent im Jahr 2019 gestiegen. Das sind fast 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche.

UZ: Und inwiefern haben sich diese Probleme durch die „Lockdown“-Maßnahmen verschärft?

Carolin Butterwegge: Die Anzahl der armen Kinder – zumindest jener Kinder und Jugendlichen im Hartz-IV-Bezug – ist nach ersten Erkenntnissen im ersten Pandemiejahr bis Ende 2020 nicht explosionsartig nach oben geschnellt, sondern annähernd gleich hoch geblieben. Allerdings dürfte sich die Situation in den Familien in vielerlei Hinsicht verschärft haben.

UZ: Alleinerziehende dürften besonders unter den Maßnahmen gelitten haben, oder?

Carolin Butterwegge: Alleinerziehende sind eine Gruppe mit einem der höchsten Armutsrisiken und hatten noch stärker als die übrigen Familien ein riesiges Betreuungsproblem, wenn Kita oder Schule geschlossen waren und sie keine Notbetreuung in Anspruch nehmen konnten, sondern etwa im Home-Office auch noch Hilfestellung beim Distanzunterricht ihrer Kinder leisten mussten. Außerdem haben Alleinerziehende relativ kleine Wohnungen, in deren Enge sich die Lockdown- oder Quarantänephasen sehr viel schwieriger überstehen ließen als in einer Villa mit Parkgrundstück.

UZ: Was hätten die Bundesregierung und die Landesregierungen denn konkret anders machen sollen, um eine sich weiter vertiefende soziale Spaltung unter Kindern und Jugendlichen wenigstens abzumildern?

Carolin Butterwegge: Man hätte – statt sich vornehmlich um Unternehmen, Selbstständige und Arbeitende zu kümmern – durch großzügige sozialstaatliche Unterstützungsmaßnahmen wie etwa eine monatliche Erhöhung des Regelbedarfs im SGB II (Sozialgesetzbuch II – Red.) dafür Sorge tragen sollen, dass alle Familien ihre gestiegenen Lebenshaltungskosten bestreiten können. Es fiel ja auch das für viele kostenfreie Schulmittagessen ersatzlos aus. Außerdem hätten zum Beispiel digitale Endgeräte für Schülerinnen und Schüler zur Verfügung gestellt werden können. Sie sind schließlich Grundvoraussetzung, um am Distanzunterricht teilnehmen zu können. Jobcenter hätten im ersten Lockdown großzügig solche Einmalleistungen gewähren müssen.

UZ: Haben wir es mit einer verlorenen „Corona-Generation“ zu tun?

Carolin Butterwegge: Die Rede von der „Corona-Generation“ vernebelt, dass die junge Generation in sich schon tief gespalten war, in Gewinnerinnen und Gewinner und Verliererinnen und Verlierer. Die soziale Trennlinie verläuft nicht zwischen den Generationen, sondern zwischen oben und unten, sowohl bei Älteren wie bei Jüngeren. Das hat die Pandemie erneut bewiesen und verstärkt. Kinder mit ohnehin höheren Risiken, im persönlichen Bildungswettbewerb zu den Verlierern zu zählen, sind im Home-Schooling oft noch mehr abgehängt worden. Das macht uns große Sorgen – besonders, wenn man beobachtet, mit welchen Maßnahmen Kultusministerien jetzt „Lernrückstände“ aufholen wollen, während viele Schülerinnen und Schüler schon wieder in Quarantäne sind.

UZ: Wie ließe sich gegensteuern?

Carolin Butterwegge: Indem Armut konsequent bekämpft wird. Und zwar nicht nur die von Kindern, sondern auch von ihren Familien, von Erwerbslosen und von Menschen, die sich und ihre Familie vom Lohn ihrer Arbeit nicht ernähren und am kulturellen und sozialen Leben teilhaben können. Dazu gehören ein armutsfester, existenzsichernder Mindestlohn, arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zur Austrocknung des Niedriglohnsektors und sozialpolitische Ansätze, um die Armut der Geringverdiener zu bekämpfen.

UZ: Sie schreiben, dass Armut nicht nur moralisch kritisiert werden dürfe, sondern auch äußerst negative Folgen für die Volkswirtschaft habe. Was meinen Sie damit?

Carolin Butterwegge: Schon vor Corona drohte einem Teil der jungen Generation der Teufelskreis einer sozialen Vererbung von Armut. Das hat sich jetzt noch einmal verstärkt. Sozialer Aufstieg findet hierzulande kaum noch statt. Zugleich fehlen schon jetzt in vielen Branchen Fachkräfte, während Personalverantwortliche Auszubildende nicht einstellen mit dem Argument, die Schulabgängerinnen und -abgänger seien nicht ausbildungsfähig. Unser Bildungssystem entlässt viel zu viele junge Menschen aus der Schule, deren Talente und Potenziale nicht wirklich entdeckt oder gar gefördert wurden.

UZ: Dann müsste es doch selbst im Interesse der Neoliberalen sein, diese Probleme zu lösen. Warum geschieht seit Jahren nichts?

Carolin Butterwegge: Man erkennt dieses Interesse vor lauter Marktgläubigkeit nicht, im Gegenteil. Außerdem ist Ungleichheit in der Klassengesellschaft funktional und sichert langfristig Besitz-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse ab. Gewinne kann man nur maximieren, wenn Löhne niedrig sind und wenn Lohnabhängige jede noch so schlecht bezahlte Arbeit annehmen müssen. Hartz IV hat maßgeblich dazu beigetragen, dass hierzulande ein großer Niedriglohnsektor entstanden ist.

UZ: Wenn man Ihr Buch liest, kommt man zu dem Schluss, dass sowohl die Kinder- und Jugendpolitik als auch die Familien-, Bildungs- und Sozialpolitik komplett und radikal neu gestaltet werden müssen. Wie soll das unter den herrschenden Bedingungen aussehen?

Carolin Butterwegge: Es braucht einen wirklichen Politikwechsel, viel Mut und Beharrlichkeit anderer Entscheidungsträger, um die Besitz- und Machtverhältnisse zu ändern – und vor allem eine breite Unterstützung hierfür aus der Bevölkerung. Politik muss für die Menschen gemacht werden, nicht für den Wirtschaftsstandort. Und natürlich benötigt man auch Zeit, um Veränderungen zu bewirken, weil Strukturen, die lange gewachsen sind, schlecht über Nacht abgeschafft werden können.

Carolin und Christoph Butterwegge
Kinder der Ungleichheit – Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt
Campus Verlag Frankfurt/Main, 303 Seiten, 22,95 Euro

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"Die Klassengesellschaft braucht die Ungleichheit", UZ vom 17. September 2021



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