Ein Krimi über die, deren Tod die Gesellschaft nicht interessiert

Die im Dunkeln sieht man nicht

Die Ärztin Margot ist schwanger, ihre Beziehung in der Schwebe und ihre Adoptivmutter gerade gestorben, als sie in deren Nachttisch Briefe ihrer leiblichen Tante findet. Margot vereinbart ein Treffen, eigentlich, um sicher zu sein, dass es in ihrer Herkunftsfamilie keine psychischen Erkrankungen gibt und sie ein Drama, wie sie es mit ihrer Adoptivmutter erlebte, nicht an ihr Kind weitervererben kann. Was sie erfährt, ist aber alles andere als beruhigend: Ihre Mutter Susan war 19, als sie sie weggegeben hat, heroinabhängig und ging auf den Strich. Kurz nach Margots Geburt wurde sie ermordet. Ihre Tante Nikki will, dass der Schuldige endlich hinter Gitter kommt. Und dazu braucht sie Margots Hilfe.

In Denis Minas Krimi „Totstück“ geht es nicht um Rache. Es geht um die, die diese Gesellschaft nicht sehen will, darum, wie unfair die Chancen im Kapitalismus verteilt werden, es geht um Armut und Sexismus. Hauptdarsteller des Ganzen ist weder Margot, noch deren Freundin Lilah, die von ihrem gewalttätigen Ex gestalkt wird, oder die Ex-Hure Nikki, sondern das schottische Glasgow. Den Aufstieg von der (beinahe) gefährlichsten und dreckigsten Stadt Europas zur Partymeile, die mit Kunst-, Musik und Designszene lockt, lässt Mina wie nebenher in ihren Krimi einfließen. So erzählt Jack, Autor eines reißerischen Skandalbuchs über die Prostituiertenmorde in Glasgow: „Damals, zweite Hälfte der 1980er, als das Heroin nach Glasgow kam, hat das alles verändert. Eine ganze Generation wurde ausgelöscht, Teile der Stadt versanken im Chaos“ und wenn Margot darüber nachdenkt, wie sich die Gegend, in die ihre Adoptivmutter mit ihr und dem Bruder nach der Scheidung zog, in den Jahren verändert hat, fallen ihr vor allem die Nachbarn ein: „Die Autos draußen wurden größer und protziger. Dann kleiner und sportlicher und schließlich elektrisch.“ Sie sind ein Beleg dafür, dass Margots Mutter ihr Leben in einem Haus in einer Gegend beschloss, die sie sich eigentlich schon lange nicht mehr leisten konnte.

Dabei ist Margot durchaus privilegiert aufgewachsen, schließlich konnte sie Ärztin werden. Das muss sie vor allem feststellen, als sie auf ihre Tante und deren Lebensrealität trifft. Und in einem Krimi, der aus Schottland kommt, wo man (anders als in Deutschland) noch Klassen kennt, kann Denise Mina auch benennen, was es ist, das zwischen Margot und Nikki steht, die zum ersten Treffen mit ihrer Nichte in billigen, aber neuen Klamotten erscheint und sich bemüht, ihren Dialekt zu mildern: „Der Klassenunterschied zwischen ihnen klafft tief und demütigt Nikki.“

Am Ende ist es jedoch Margot, die beschämt sein müsste. Denn Nikki macht ihr klar, warum ihre Mutter zum Junkie wurde und warum sie ihren Körper verkaufte. Und dass das Trauma nicht am Anfang stand, sondern am Ende: „,Ich dachte bloß, du weißt schon, wahrscheinlich macht man so einen Job doch nur, wenn man irgendwie traumatisiert ist.‘ Nikki schloss die Augen. ‚ARM‘, sagte sie entnervt. ‚Was?‘ Sie sieht Margot fest an. ‚Sie war arm. Wir waren sehr arm. Deshalb haben wir es gemacht.’“

Die Armut ist es auch, wegen der Nikki und ihre Schwester vom Staat dermaßen im Stich gelassen wurden. Nachdem die Mutter stirbt, gibt es niemanden, der sich kümmert, Margots Mutter zieht bei einem älteren Mann ein, mit 13 wird sie das erste Mal schwanger. Der Mann soll später Margots Erzeuger werden. „Wir konnten doch sonst nirgends hin. … Nicht alle bekommen eine Jugend“, versucht Nikki sich an Kaltschnäuzigkeit. Sie ist gespielt.

061102 Mina Totstueck - Die im Dunkeln sieht man nicht - Denis Minas, Krimi, Rezension, Totstück - Kultur

Nach der Ermordung Susans gibt sich die Polizei wenig Mühe, den Schuldigen zu finden. Zu viele Prostituierte wurden ermordet, zu wenig ist die Glasgower Gesamtbevölkerung davon betroffen. Sind doch nur Nutten. Daran kann auch die einzige Polizistin nichts ändern, die den Mädchen auf dem Strich, den Opfern und ihren Angehörigen mit Respekt begegnet und ein echtes Interesse an der Aufklärung der Morde hat. Der Mörder von Susan und den anderen wird nicht gefasst.

Im Krimi stellt sich die Frage, ob es ein Serienmörder war, ein Polizist gar, aber eigentlich ist das egal. Die Schicksale der Frauen interessieren nicht. Dass das so ist, ist leider nicht der Phantasie Denise Minas entsprungen. Im US-amerikanischen Polizei-Slang gibt es das (inoffizielle) Kürzel NHI, das Polizisten nach Schießereien oder dem Auffinden einer Leiche an ihre Kollegen durchgeben. Es steht für No Human Involved (Keine menschliche Beteiligung). Es wird verwendet bei Verbrechen gegen Schwarze, Latinos, Obdachlose oder Prostituierte. In Minas Krimi nennen die ermittelnden Polizisten die ermordeten Frauen nicht beim Namen. Für sie sind es „Totstücke“.

Denise Mina: Totstück.
Übersetzt von Karen Gerwig.
Ariadne Verlag, 23,- Euro

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"Die im Dunkeln sieht man nicht", UZ vom 11. Februar 2022



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