Über Experten und den Konsens der Wissenschaft im Angriffskrieg

Die heilige Inquisition

Dass Klaus Gestwa mit fast 60 Jahren Influencer werden würde, hätte er selbst wohl nicht gedacht. Mit fast einer halben Million Klicks war der Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Tübingen gleich mit seinem ersten YouTube-Video erfolgreich: „Thesencheck: Diese 8 Behauptungen über den Krieg in der Ukraine sind falsch.“

Seit einem guten Jahr geistert ­Gestwa als Experte für Russland und die Ukraine durch die Medien. Weder seine Publikationsliste noch die benannten Forschungsschwerpunkte lassen darauf schließen, dass er sich vor 2022 ausführlich mit der Ukraine oder Russland nach der Konterrevolution beschäftigt hätte. Dafür ziert die Startseite des Internetauftritts von Gestwas Institut der Aufruf „Stand with Ukraine“.

Das englische Verb, auf das der „Influencer“ zurückgeht, ist „to influence“, zu Deutsch „beeinflussen“. Genau das möchte Gestwa laut seinem Video tun: Einfluss nehmen, um seiner Meinung nach falsche Auffassungen zum Ukraine-Krieg zu entkräften. Seine Meinung sei die der Wissenschaft, da herrsche weitgehend Konsens, deshalb lägen alle anderen falsch – sie würden bewusst oder unbewusst russische Propaganda verbreiten.

Die bürgerliche Wissenschaft behauptet schon seit Jahrhunderten ihre eigene Objektivität. Die Aufklärung befreite sie nach langem Kampf von der Vorherrschaft der Katholischen Kirche. Selbst als der Kapitalismus seine gesellschaftlich fortschrittliche Funktion verlor und die Wissenschaften in seine reaktionäre Selbsterhaltung einbezog, blieben bestimmte Grundüberzeugungen erhalten. Dazu zählt, dass Ergebnisse belegbar und überprüfbar sein müssen. Aber auch, dass das Prinzip der Wissenschaft der Meinungsstreit ist, also der Dissens.

Gestwas dünne Beweisführung fußt auf einem angeblichen Konsens, der so höchstens innerhalb der Grenzen der NATO existiert. Jenseits des Wertewestens gibt es differenzierte Einschätzungen, wie nicht zuletzt der chinesische Friedensplan zeigt.

Das bringt Experte Gestwa gleich nach drei Minuten ins Stottern. Die NATO-Osterweiterung sei lange kontrovers diskutiert worden. „Weil man auch im Blick hatte, dass sich Russland dadurch vielleicht etwas ähm … ehhm … etwas echauffieren würde.“ Er erkennt also an, dass mit der Osterweiterung die Sicherheitsinteressen Russlands berührt wurden. Deshalb habe es die NATO-Russland-Grundakte gegeben. Dass diese vom Westen immer wieder unterlaufen wurde, muss auch Gestwa zugeben. Vereinbart war etwa, nie mehr als 5.000 Soldaten in den Beitrittsländern zu stationieren. Seit 2014 seien es nie mehr als 8.000 gewesen, gesteht der Experte ein. Es sei zwar 2007 vorgeschlagen worden, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, dagegen habe es aber ein Veto unter anderem aus Deutschland gegeben. Vom Tisch war der Beitritt damit jedoch nicht. ­Gestwa weist darauf hin, dass eine spätere NATO-Mitgliedschaft der Ukraine explizit offen gelassen wurde.

Laut Gestwa handelt es sich in der Ukraine um eine unabhängige europäische Demokratie. Der Euromaidan 2014 sei „die größte demokratische Massenbewegung in Europa seit 1989“ gewesen. Das ärmste und korrupteste Land Europas, das seit Jahren am Finanztropf des IWF hängt, in dem der russischsprachige Teil der Bevölkerung seit 2014 unterdrückt wird, inzwischen keinerlei Opposition mehr zugelassen ist und dessen Präsident ein Komiker ist, der von einem Oligarchen gesponsert wird. Hervorgegangen aus einem Putsch, den auch bürgerliche Medien so nannten, mit massiver Unterstützung von Faschisten. Die gut dokumentierten faschistischen Ausfälle verschweigt der Experte ebenso wie die Kritik Israels am Staatskult um den Nazikollaborateur Stepan Bandera.

Am interessantesten an Gestwas Propagandashow ist das, was er nicht sagt. Er schafft es, 45 Minuten über die Ukraine zu sprechen, ohne ein Wort über das völkerrechtlich verbindliche Abkommen Minsk II zu verlieren. Möglich, dass es nicht in den Konsens der Wissenschaft des Experten passt, hat die westliche Seite doch inzwischen offen eingestanden, dass das Abkommen nichts weiter als Fake-News für Russland war.

Bleibt zum Schluss noch eine Bemerkung zu Gestwas Sprache. Er bedient sich aller gängigen NATO-Narrative und der Spielregeln für Propaganda, insbesondere wenn es um den russischen Präsidenten Wladimir Putin geht. Der veröffentlicht etwa „Traktate“ und wird durchweg als Diktator mit persönlichem Minderwertigkeitskomplex beschrieben.

Mit seinem soliden Antikommunismus, seinem Russenhass und dem Hang zur Kriegstreiberei wäre Gestwa besser in einer Neuauflage der heiligen Inquisition aufgehoben als an einer Universität – oder die deutschen Universitäten sind schon längst zu Stützpunkten des Opus Dei der NATO geworden.

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"Die heilige Inquisition", UZ vom 7. April 2023



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