„Wahrheit in den Fakten“, „empirische Wirklichkeit in China“ – Markus Bernds Beitrag kommt mit großer Geste daher. Aber „Zahlen, Daten, Empirie“ habe ich darin vergeblich gesucht. Stattdessen viele abstrakte „marxologische“ Aussagen aus dem Lehrbuch der Politischen Ökonomie, verwoben mit einem mangelhaften Kenntnisstand über das reale, sich massiv entwickelnde China. Bernds Kenntnisstand geht bestenfalls als lückenhafter Informationsstand aus den 1990er Jahren durch.
Chinesische Geschichte
Die „Pax Sinica“ war im Vergleich mit der griechisch-römisch-europäischen Geschichte in der Tat eine relativ friedliche Konstellation. Das lag nicht nur an China, sondern auch an den persischen und indischen Kulturen. Auffallend war stets, dass es keinerlei ethnischen Rassismus gab, sondern eine interkulturelle Offenheit und Mischung sowie keine Vernichtungskriege, alles „europäische Erfindungen“ seit der Römerzeit.
Hintergrund mag gewesen sein, dass es keine Sklavenhalterformation wie im antiken Europa und auch kein bäuerliches Leibeigentum wie im europäischen Mittelalter gab. Stattdessen einen relativ rationalen Staat mit philosophisch qualifiziertem konfuzianischem Berufsbeamtentum bis ins letzte Dorf hinein. Und da die Bauern immer „sich selbst gehörten“, ist bemerkenswert, dass sie einen hohen Grad an Selbstorganisation und Verteidigungsorganisationen in den Dörfern hatten. Das erklärt mit die Häufigkeit von Bauernrevolten und -aufständen in der chinesischen Geschichte.
Das ist nun selbstverständlich vereinbar damit, dass es Klassen und Klassenkämpfe gab, die chinesische Gesellschaft, Kultur und staatliche Verfasstheit aber außergewöhnlich stabil waren. Die außerordentliche ökologische Verletzlichkeit Chinas steht damit im Zusammenhang. Relativ zur Bevölkerungszahl hatte China schon immer wenig agrarisch nutzbaren Boden. Gleichzeitig gab es überdurchschnittlich viele ökologische Katastrophen, die oft in Hungersnöten mündeten. Diese waren oft ursächlich für die Bauernaufstände, da das staatliche Handeln die Not eben nicht abhalten konnte und natürlich nicht nach unten umverteilt wurde und damit die Herrschaft ihre Legitimität verlor. Das alles hat nichts mit der von Bernd vorgeworfenen „Verklärung der Geschichte“ in China zu tun, sondern mit einer konkreten historisch-materialistischen Analyse.
Reform und Öffnung
Man kann die Zulassung von Kapitalisten, privaten Großunternehmen und „Märkten“ natürlich als „bewusste Schaffung einer neuen Ausbeuterklasse durch die Partei“ verzerren. Mit der chinesischen Realität hat es wenig zu tun. Statische Scholastik ist unvereinbar mit historisch-materialistischer Analyse.
Tatsächlich hat es die Ursprünge der kapitalistischen Unternehmen in China bereits seit den späten 1960ern, also in der Ära Mao, gegeben, als die ländlichen „Township and Village Enterprises“ (TVE), zunächst noch strikt in genossenschaftlichen Strukturen, ab den 1970ern von den kollektiven Eignern kapitalistisch verselbstständigt wurden. Die TVE waren enorm erfolgreich und sicherten Chinas weiteren wirtschaftlichen Aufstieg nach den Fehlentwicklungen des „Großen Sprungs nach vorn“ und den Schäden durch die Kulturrevolution. Die „Reform und Öffnung“ 1978 war zum großen Teil eine Verallgemeinerung der Erfahrungen der ländlichen TVE-Bewegung. Eine Schwarz-Weiß-Folie, „vor 1978 alles prima Sozialismus, danach nur noch Kapitalismus und Sklaverei“, ist unhaltbar und führt ins Nichts.
Eine Idealisierung der noch wenig komplexen, frühen Formen der europazentrierten Staats-Planwirtschaft blendet die inneren Schwächen und den dadurch mitverursachten Niedergang und Kollaps des europäischen Sozialismus aus. Auch China würde heute definitiv nicht mehr existieren, hätte es nicht sehr genau und mutig die Konsequenzen aus den historischen Niederlagen im alten Europa gezogen. Die Volksrepublik befindet sich heute im Frühstadium des Sozialismus, eines neuartigen Sozialismus, den wir noch gar nicht genau, sondern nur in Konturen erkennen können.
Die Sowjetunion wurde vom feindlichen kapitalistisch-imperialen Weltsystem, das sehr viel mehr Ressourcen zur Verfügung hatte, niederkonkurriert und auf allen Ebenen, auch ideologisch, „erschöpft“. China dagegen ist heute auf friedlichem Wege vom Imperialsystem nicht mehr zerstörbar, unter anderem weil es neben den Produktivkräften auch die soziale Mobilisierung auf ein viel höheres Niveau entwickeln konnte.
China hat Konsequenzen aus der Geschichte gezogen und aus dem sowohl innerlich wie äußerlich bedingten Niedergang und Kollaps des europäischen Sozialismusversuchs gelernt. Ein solcher Lernprozess scheint aber von vielen europäischen intellektuellen Lehrbuch-„Marxologen“ immer noch nicht vollzogen. China hat vor allem erkannt, dass die Produktivkräfte unter den Rahmenbedingungen der Staatsmacht einer Kommunistischen Partei in einer ganz anderen Dimension entwickelt werden müssen, als es in der Sowjetunion umgesetzt werden konnte. Hinzu kommt, dass die chinesischen Kommunisten in ganz anderen Zeitdimensionen denken. Die frühen europäischen Kommunisten wollten die Geschichte überholen, bis dahin, dass Nikita Chruschtschow von der baldigen Einführung des Kommunismus schwärmte. Viele europäische Kommunisten waren nicht über ein simples lineares Denken hinausgelangt, während die chinesischen Kommunisten nun auf der Basis eines viel größeren historischen Erfahrungsschatzes die Dialektik von Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen ganz neu und viel effektiver gestalten.
Chinas aktuelle Entwicklungen
Bernd suggeriert, China sei kapitalistisch. Es wäre aber ein jämmerlicher Kapitalismus. Die Zahlen des Wirtschaftsberaters McKinsey zeigen seit Jahren, dass die Renditen in China dauerhaft unter dem kapitalistischen Welt-Renditedurchschnitt gehalten werden.
Dass die chinesische Arbeiterschaft eine der aktivsten und China das streikintensivste Land der Welt ist, betrieblich stets und zunehmend organisiert von den Parteigruppen der KPCh, passt natürlich auch nicht ins Bild eines chinesischen „Arbeitsmarktes“, in dem die KPCh die chinesischen Arbeiter dem Kapital ausliefert. Dabei streiken die Arbeiter hochpolitisch, weniger für Löhne, die seit langem stark steigen, als etwa für Investitionen und Innovationen im Betrieb, wenn die Kapitalisten einen Betrieb ausnehmen wollen. Der verstorbene Arbeitsrechtler Rolf Geffken hat dazu mehrere Bücher veröffentlicht. Bernd hat offenbar wenig Wissen vom Aktivierungsgrad der chinesischen Arbeiter, der starken arbeitsgerichtlichen Stellung der chinesischen Gewerkschaften im Betrieb, den reduzierten Arbeitszeiten oder der im internationalen Vergleich starken Erhöhung der chinesischen Arbeitskosten. Dass die deutschen Kapitalisten sich seit Jahren beklagen über die Einmischung der Betriebsgruppen der KPCh und „Politisierung der Betriebe“, scheint für ihn auch kein Anlass zum Nachdenken zu sein.
Unbekannt scheinbar auch die zunehmende Kollektivierung der chinesischen Sozialversicherungssysteme, der Kranken-, Renten-, Arbeitslosen-, oder Mutterschaftsversicherung. Von „Sozialabbau“ kann hier schlicht keine Rede sein. Von „Sklaverei“, „Elend“, „Unwissenheit“, „Brutalisierung“ oder „moralischer Degradation“ chinesischer Arbeiter zu reden, zeigt nur, dass der Autor in einem anderen Universum unterwegs ist. Die Situation der Wanderarbeiter hat sich durch die Reformen des „Hukou“ (Registrierungsrecht) seit den 2000ern enorm verbessert. 200 Millionen Wanderarbeitern hat sie eine auskömmliche Existenz in den Ballungszentren der Ostküste ermöglicht, während über 100 Millionen bereits wieder zurückgekehrt sind, da sie in ihren überdurchschnittlich wachsenden ländlichen Heimatregionen jetzt eine deutlich bessere Perspektive haben.
Bernd schreibt von „marktbestimmten Löhnen“, deren Volkseinkommensanteil „extrem niedrig“ sei. Die Fakten sind andere: Die komplette Beseitigung der absoluten Armut, die jahrelang erheblichen, meist zweistelligen Lohnsteigerungen und die massive Rückverteilung nach unten sowie eine wachsende Schicht von 400 bis 500 Millionen Menschen mit mittleren Einkommen haben den Gini-Koeffizienten Chinas bereits deutlich verbessert. Ich rede hier gar nicht erst von den massiven Steuerreformen der letzten Jahre zugunsten der Lohneinkommen oder von erhöhter Kaufkraft angesichts bester Ausstattung mit physischer und sozialer Infrastruktur. Das chinesische Volkseinkommen in Kaufkraftparitäten ist im internationalen Vergleich deutlich höher als das nominale. Bernd argumentiert auch mit einer Strategie der Exportüberschüsse, die China aber schon vor zehn Jahren aufgegeben hat. Der Anteil der Volksrepublik an den Weltexporten ist mit 16 Prozent inzwischen kleiner als sein Anteil am Weltsozialprodukt (19 Prozent) oder an der Weltbevölkerung (18,5 Prozent).
Staatliche Kontrolle
Wer davon redet, dass der chinesische Staat keine Kontrolle mehr über die Kapitalistenklasse habe, der hat auch die jüngsten Ereignisse der Maßregelung der IT-Oligopole, der Milliardäre, korrupter Staatsdiener, die Trockenlegung des Sumpfes des finanziellen P2P-Kredit- und Spekulationssektors nicht zur Kenntnis genommen. Bernd erwähnt die „Vergiftung von Babynahrung“, den „Melamin-Skandal“ von 2008. Ein kurzer Blick in Wikipedia, und er hätte vom rigorosen Durchgreifen der chinesischen Regierung inklusive Todesstrafen für Manager erfahren. Hätte er danach noch „Lebensmittelskandal“ und „China“ gegoogelt, wäre ihm aufgefallen, dass die westliche Presse, die sonst alles gegen China aufgreift, seit 2015 nichts mehr dazu melden konnte.
Bernd erwähnt beiläufig „die Immobilienblase“. Auch hier scheint er sich an westliche Mainstream-Quellen zu halten. Den Charakter des harten Vorgehens der chinesischen Regierung gegen die Überspekulation durch die Wohnungs- und Immobilienkonzerne scheint er gar nicht zu begreifen. Evergrande, Country Garden und andere werden gezielt dem Bankrott überlassen. Man könnte höchstens argumentieren, dass die Korrekturen gegen Überdimensionierung des Immobiliensektors und gegen entsprechende Überspekulation früher hätten kommen können.
So also kommen wir in der Tat nicht weiter. Die UZ-Debatte krankt immer wieder an Beiträgen von abstraktem „marxologischem“ Dogmatismus und entsprechenden Schwärmereien über einen idealen Sozialismus, der in der UdSSR bereits geherrscht habe. Ja, China hat „Märkte“, sehr gut regulierte und daher sehr agile, ist aber keine „Marktwirtschaft“, es hat Kapitalisten, ist aber als System kein Kapitalismus.