Überlegungen zur Geschichtsbetrachtung

Die Geschichte einer kämpfenden Bewegung

Von Herbert Münchow

Wenn wir uns heute mit der Geschichte der KPD befassen stellt dies bedeutend höhere Anforderungen als noch vor einigen Jahrzehnten, denn die Möglichkeiten zur marxistischen Aufklärung der Jugend sind weitaus geringer geworden und der Antikommunismus hat sich als Resultat der Konterrevolution verstärkt. Überdies ist eine längere Zeit vergangen, in der man Abstand gewinnen konnte. Außerdem liegt eine Fülle von Quellenmaterial vor. Oft taucht in solchen Geschichtsdebatten als „roter Faden“ der Gedanke der Durchsetzung des Marxismus-Leninismus auf. Häufig endet die Gedankenführung bei der Fragestellung: Brandler oder Thälmann? Dabei steht Ernst Thälmann dann für Leninismus und Heinrich Brandler (August Thalheimer eingeschlossen) für eine Weltanschauung und Politik, welcher der Leninismus weitgehend fremd geblieben ist. Dieses vereinfachende Schema ist für die Aneignung unserer Geschichte kaum hilfreich. Diese Überlegungen gingen mir beim Studium des Artikels von Heinz Karl, den ich persönlich sehr schätze, „1925: Ein Wendepunkt in der Geschichte der KPD“ (UZ vom 11. März 2016, S. 12/13*), durch den Kopf.

Konkret erinnerte ich mich an das erste Leverkusener Gespräch, das vom 24. bis 25. Januar 2004 an der Karl-Liebknecht-Schule stattfand und ohne Robert Steigerwald nie zustande gekommen wäre. Es handelte sich um die Auftaktveranstaltung für mehrere Treffen von marxistischen Kräften, die aus den Traditionen der SED, KPD/DKP, der KPO und der Vierten Internationale kamen. Sie war dem Thema gewidmet: „Zur Problematik der Übergangsforderungen in der Strategie der sozialistisch-kommunistischen Bewegung. Geschichtliches und Aktuelles“. Die Marxistischen Blätter Heft 3–04 berichteten darüber. Das Heft erschien unter dem Motto: „Übergänge zum Sozialismus: Streit unter den Linken“. Der unvergessene Hans Krusch hielt das Einleitungsreferat zum Thema „‚Arbeiter-Regierung‘ als Übergangsforderung der KI“. Man kann schon sagen, dass es sich um eine Art Paukenschlag handelte. Die Geschichte der KPD war für ihn nicht erstrangig die Geschichte fraktioneller Auseinandersetzungen, sondern die „Geschichte einer kämpfenden Bewegung, einer proletarischen Partei, die bestrebt war, die Interessen der Arbeiterklasse und anderen Werktätigen gegen die Macht des Kapitals zu verteidigen und die nie ein Hehl daraus machte, dass Kommunisten für die Überwindung des Imperialistischen Systems, für den revolutionären Bruch mit den kapitalistischen Macht- und Eigentumsverhältnissen, für eine sozialistische Per-

spektive kämpfen.“ Solch ein umfassendes Herangehen an die Geschichte der KPD ermöglicht es – eingeordnet in die Gesamtgeschichte –, „ungeschminkt auf Entwicklungen zu verweisen, die nach 1923 das Wirken der Kommunisten erschwerten, belasteten, und zwar durch verfehlte Entscheidungen und Entwicklungen in den eigenen Reihen“.[1]

Ich erwarte heute von einer Darstellung der Geschichte der KPD, dass sie eingedenk aller selbst eingestandenen Fehler auch die Leistungen von Heinrich Brandler und August Thalheimer als bedeutende Funktionäre der KPD sine ira et studio würdigt. Für Hans Krusch war das kein Problem. Mit dem Ausbooten von Thalheimer ging der KPD und der KI ein beträchtliches intellektuelles Potential verloren. Vor allem gilt es immer wieder deutlich zu sagen, dass die Entscheidung von Heinrich Brandler, den vorbereiteten bewaffneten Aufstand im Oktober 1923 nicht auszulösen, richtig war.[2]  „Worum es nach Lage der Dinge ging, war die Verteidigung in Sachsen und Thüringen errungener Positionen, die Abwehr des Angriffs auf die dortigen Linksregierungen, der damit verknüpften Generaloffensive zum weiteren Abbau demokratischer und sozialer Errungenschaften aus der Novemberrevolution, zur Niederschlagung der sozialistischen Bewegung – die Entfaltung von Massenwiderstand.“[3] Und ob das „richtige Konzept der Arbeiterregierung“ wirklich nur ganz „einseitig parlamentarisch“ aufgefasst wurde, ob damit alles gesagt ist, müsste auch genauer diskutiert werden. Einen wichtigen Beitrag dazu hat wiederum Hans Krusch geleistet.[4] Ohne August Thalheimer bleibt die Diskussion von Übergangsforderungen und Übergangslosungen (die Losung der Produktionskontrolle ist weder schlechthin doktrinär, noch ist sie aus dem Zusammenhang des Kampfes gegen das Monopolkapital gerissen[5]), bleibt die Erörterung der Dialektik von Teil- und Endkämpfen, bleibt auch die Erörterung der Probleme der Einheitsfront im Kampf gegen den Faschismus[6] unvollständig. Es steht wohl auch nichts im Wege, die Auseinandersetzung um das Aktionsprogramm der KPD für die Gegenwart produktiv zu machen. Hinsichtlich der Problematik Brandler – Thälmann kann ich mich nur Eberhard Czichon und Heinz Marohn anschließen: „Historisch betrachtet, liegt eine gewisse Tragik darin, dass Brandler die Aura eines Mannes bekam, der 1923 vor der Revolution zurückgewichen sei, während Thälmann im hellen Lichte eines Revolutionärs stand. Die personelle Alternative war falsch, wurde aber interne Parteilegende, in der beide Männer selbst verfangen blieben.“[7]

Halten wir es mit Wolfgang Abendroth: Wir werden immer noch viel aus den Arbeiten Thalheimers lernen können. Und: „So wird Heinrich Brandlers Charakter ein Vorbild für neue Generationen der sozialistischen Bewegung bleiben, gleichgültig, ob man im einzelnen alle seine Entscheidungen billigt oder nicht.“[8]

Anmerkungen:

[1] H. Krusch, „Arbeiter-Regierung“ als Übergangsforderung der KI, MB 3–04, S. 20

[2] H. Krusch, Linksregierungen im Visier, Reichsexekutive 1923, Schkeuditz 1998, S. 80. A. Thalheimer, 1923: Eine verpasste Revolution?, Berlin 1931

[3] Ebenda, S. 80

[4] Ebenda, bes. S. 81 bis 99. Zentrale der KPD (Hrsg.), Die Bildung der linkssozialdemokratischen Regierung in Sachsen, Eine Material-Zusammenstellung, April 1923.

[5] Vgl. u. a. Plattform der Kommunistischen Partei Deutschlands (Opposition), Dezember 1930, Frage 113.

[6] A. Thalheimer, Programmatische Fragen, Kritik des Programmentwurfs der Kommunistischen Internationale (VI. Weltkongreß), Mainz 1993. Ders, Wie schafft die Arbeiterklasse die Einheitsfront gegen den Faschismus? 1932.

[7] E. Czichon, H. Marohn, Thälmann. Ein Report, Bd. 1, Berlin 2010, S. 219.

[8] W. Abendroth, Die Aktualität der Arbeiterbewegung, Frankfurt am Main 1985, S. 159 bis 174.

* Anmerkung der Redaktion: In der UZ vom 11. März erschien nur ein Auszug aus einem längeren Beitrag des Historikers Heinz Karl – und zwar jener, der sich vorrangig auf die Auseinandersetzung mit ultralinken Positionen bezieht.

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"Die Geschichte einer kämpfenden Bewegung", UZ vom 1. April 2016



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