„Jage nicht einem Markt nach, schaffe einen Markt.“ Mit diesem Satz lernt man in der Mini-Serie „Dopesick“ die Familie Sackler kennen, Inhaber des Pharmakonzerns Purdue Pharma. Am Ende der Idee, einen Markt zu erfinden, um Produkte unters Volk zu bringen, werden 841.000 US-Amerikaner an einer Überdosis Opioiden gestorben sein. Es ist heute die häufigste Todesursache für US-Amerikaner unter 50, häufiger als Autounfälle oder Schussverletzungen inklusive Morden und Selbstmorden.
Verantwortlich dafür ist die Pharma-Industrie, ihnen voran Purdue Pharma. Mit dem Geschäft an Valium („Mothers little helper“) reich geworden, suchte Purdue Pharma Ende der 1980er-Jahre nach dem neuen „großen Ding“ und fand es in Schmerzmitteln. Damit sich die Entwicklungskosten von 40 Millionen US-Dollar auch lohnen, muss das Zeug an den Endverbraucher – und zwar an deutlich mehr Patientinnen und Patienten als bisher. Denn potente Schmerzmittel wie Morphium und andere Opioide waren streng reguliert und der Einsatz Fachärzten vorbehalten, etwa nach Operationen oder in der Krebstherapie. Es machte einfach zu schnell zu süchtig.
Als Purdue Pharma 1996 das Opioid „Oxycontin“ herausbrachte, hatten sie dafür einen Markt erfunden: Schmerzpatienten. Mithilfe aggressiver Verkaufstaktiken und einer Studie, die angeblich belegt, dass nur ein Prozent der Einnehmenden von Opioiden abhängig werden (und die in Wahrheit keine Studie war), gelingen ihnen gigantische Verkaufszahlen. Auch deswegen, weil die Zulassungsbehörde FDA Oxycontin bescheinigt, dass es weniger abhängig mache als andere Opiate. Der dafür zuständige Beamte fängt später bei Purdue Pharma an. Es gelingt der Firma, Schmerzen als „fünftes Vitalzeichen“ neben Puls, Blutdruck, Atmung und Temperatur zu etablieren und sie finanzieren in den gesamten USA Lobbygruppen für Schmerzpatienten, die sich angeblich unabhängig für die bestmögliche Behandlung einsetzen. Wenn die Probleme mit den Pillen zu offensichtlich werden, hat die Pharmafirma schnell Experten und Erklärungen zur Hand: die Wirkung hält nicht wie versprochen zwölf Stunden an? Durchbruchschmerz, der Patient braucht eine höhere Dosis! Die Patientin wird abhängig? Pseudoabhängigkeit! Sie ist nicht abhängig, sie hat Schmerzen und braucht mehr Opioide! Dabei sind diese Menschen „Dopesick“: Sie haben so starke Entzugserscheinungen, dass sie medizinischer Behandlung bedürfen.
Die Serie, die auf dem Buch „Dopesick: Wie Ärzte und Pharmaindustrie uns süchtig machen“ der Journalistin Beth Macy basiert, zeichnet die Geschichte der Opioid-Epidemie in den USA fiktionalisiert nach und zeigt gleich zu Anfang den Unterschied zwischen Opfern und Nutznießern. Die Sacklers treffen sich zum Familienessen nicht etwa in der heimischen Villa, sondern im „Sackler-Flügel“ des New Yorker Metropolitan Museum of Art – auch nach Enthüllung der Skandale um Oxycontin, erheblichen Schadenersatzzahlungen und der offiziellen Auflösung von „Purdue Pharma“ blieben die Sacklers eine der reichsten Familien der USA. Die Idee vom eigenen Markt präsentiert beim Essen Richard Sackler, eindrucksvoll-widerlich dargestellt von Michael Stuhlbarg. Seine Idee nach soll Oxycontin zuerst in den ländlichen Farmgegenden und in Kleinstädten mit zum Beispiel Bergbaubetrieben eingeführt werden: Farmen und Minen, die Arbeitsunfälle sind zahlreich, die Verschleißerscheinungen beim Menschen auch – vor allem aber sind sie so arm, dass sie es sich nicht leisten können, wegen Schmerzen nicht zur Arbeit zu gehen. Da kommt das Opioid gerade recht.
In einer dieser Kleinstädte praktiziert der Arzt Samuel Finnix (Michael Keaton, zusammen mit Beth Macy auch ausführender Produzent der Serie). Er kennt seine Patienten nicht nur dem Namen nach, sondern besucht auch nach Feierabend demente Damen zu Hause, um sie an die Einnahme von Medikamenten zu erinnern. Auch er wird von einem ehrgeizigen Pharmavertreter (Will Poulter) davon überzeugt, Oxycontin zu verschreiben und stürzt damit nicht nur seine junge Patientin Betsy (Kaitlyn Dever) ins Verderben. Keine zehn Jahre später wird er, schwer gealtert, in einer Anhörung sagen, dass er nicht glauben kann, „dass sie alle tot sind“.
„Dopesick“ erzählt die Geschichte auf mehreren Ebenen und in mehreren Zeitabschnitten, das macht konzentriertes Zuschauen nötig, ist es aber wert. Denn so entfaltet sich die Epidemie der Drogensucht über die USA, während man den Sacklers dabei zuschaut, wie sie immer mehr Geld aus dem Elend der Menschen scheffeln und die Bundesanwälte Randy Ramseyer (John Hoogenakker) und Rick Mountcastle (Peter Sarsgard) versuchen, eine Anklage gegen die Pharmaindustrie auf die Beine zu stellen.
Die Serie wurde von Macher Danny Strong in der „New York Times“ als „die Gerichtsverhandlung, die hätte stattfinden sollen“, bezeichnet. Um seine zukünftigen Profite wird sich Big Pharma trotzdem keine Sorgen machen müssen. Im Wahlkampf vor der US-Präsidentschaftswahl 2020 erhielten zwei Drittel der Kongressmitglieder Geld von Pharmafirmen.