Eberhard Panitz
Eiszeit
Eine unwirkliche Geschichte
Neufassung 2016.
Berlin und Böklund,
Verlag Wiljo Heinen,
2016, 215 S., 14.- Euro
Als Ende 1983 die Erzählung „Eiszeit“ von Eberhard Panitz erschien, erregte sie Aufsehen; manche Kritiker sprachen im Angesicht der gleichnishaften Geschichte von einem „völlig neuen Panitz“, von dem bisher prall realistische Geschichten bekannt waren. Aber der Autor war einem seiner Themen treu geblieben: Zu seinen traumatischen individuellen Erfahrungen gehörte der Bombenangriff auf Dresden, den er in seinen Büchern vielfach thematisierte, der auch in Eiszeit mehrfach erwähnt wird. Das trifft auf den Zweiten Weltkrieg insgesamt zu: „Krieg, Gefangenschaft, bitterste Not“. Nach diesen persönlichen Erfahrungen sind für Panitz Krieg und Terror die größten Bedrohungen der Menschheit.
Mitten im Kalten Krieg erschien diese „unwirkliche Geschichte“, wie sie im Untertitel hieß. Ein Untergangsszenario wurde geschildert, ohne dass ein Aggressor oder ein Angegriffener genannt worden wäre. Nur Opfer, leidende Menschen spielten eine Rolle. Panitz hatte eine Erzählung über eine Vernichtung geschrieben, die alle Menschen betraf. Wenigstens das schien 1990 gebannt; es gab Verträge über Einflusssphären der Großmächte, über die begrenzte Ausdehnung der NATO, über untersagte Stationierungen von NATO-Truppen im Osten und anderes mehr.
Je mehr es jedoch schien, Russland, die aus der Sowjetunion hervorgegangene Macht im Osten, schwächele durch das Versagen von Machthabern wie Jelzin, desto weniger waren diese Verträge wert und desto schneller wurden sie ad acta gelegt. Die Gefahren, die gebannt schienen, nahmen wieder zu und sind heute, angesichts zusätzlicher Angriffe durch IS und anderem Terrorismus, zu einer neuen unvorstellbaren, ungeheuerlichen Bedrohung geworden, in der Panitz‘ Szenarium von 1983, das Desaster der Menschheit durch einen Atomkrieg, kaum noch zur Beschreibung ausreicht. Es wäre nicht der politisch und ethisch engagierte Eberhard Panitz, wenn er den erneut aufbrechenden Bedrohungen, die schneller als früher eskalieren und zur Vernichtung streben – schon stehen sich Kontrahenten in Syrien direkt gegenüber, hochgerüstet und durch „kleine“ Kriege ihre Positionen bestimmend –, nicht sein Wort, so wenig das ist in dieser Gefahr, entgegenstellte.
Das Buch war in seiner ersten Fassung auch eine zeitgeschichtlich orientierte Variation von Robert Merles „Malevil“ (deutsch 1975, verfilmt 1981); im Unterschied zu diesem Roman widmete sich Panitz dem bloßen Überleben, eine Zukunftsgestaltung erschien wiederum allegorisch im Christophorus-Symbol der aus der drohenden Vernichtung geretteten Kinder. Die Überarbeitung ist eine Variation der eigenen Vorlage, erneut zeitgeschichtlich orientiert unter dem Eindruck verschärfter Konfrontation, aber auch in der Bedrängnis eines verschwommenen „Wir schaffen das“, das Panitz zitiert (107). Er versucht eine Bestimmung durch literarisch-geistige Motive wie Hoffnung, Rettung, Verzweiflung, Versuchung usw. Zudem hat er wie ein Netz über den Text ein Begriffsfeld notwendiger menschheitlicher Erinnerungswerte gespannt, vom Mythos des König Artus, der nun durch den alten Maxim, einst „Minister in Sachsen, dann in Berlin“, jetzt ein weiser Mann, abgelöst wird, und seiner Tafelrunde, in der ebenfalls Rettungsvorhaben und Zukunftsgestaltung eine Rolle spielten – das Hotel heißt „Artushof“ und wird von Maxim „mittelalterlich“ regiert, auch der heilige Gral ist im Gespräch, und die Hotelwäsche trägt die Artuskrone, über das Weihnachtsfest, um seine friedliche Bedeutung mit Zerstörung zu konfrontieren, bis zur Geburt eines Christophorus am Ende der Handlung. Auch in der neuen Fassung knüpfte Panitz die Hoffnung an dieses christliche Motiv; anderes erschien kaum noch im Blickfeld. Der rote Stern, der am Ende der früheren Fassung am Ende zu sehen war, ist in der neuen Allegorie nur zu ahnen und vielleicht das Zeichen „irgendeines Rettungsdienstes“.
Eine besondere Rolle bekommt Goethe und sein Gedicht „Liebliches“ aus dem „West-östlichen Divan“, dessen frühe Variante, die Erfurt dem Kriegsgott entrissen sah, abgelöst wurde durch große Landschaften, „die sich nachbarlich erstrecken“ und dem Kriegsgott entrissen werden müssen. In dieser Veränderung liegt ein Merkmal der neuen Konzeption: Der Ausgangspunkt ist gleich geblieben, der Artushof im Thüringer Wald, aber der Blick ist großräumiger geworden, hat Deutschland und Europa verlassen und richtet sich auf die Welt. Die aber ist von Kriegen geprägt, nicht nur – und das ist eine weitere Veränderung gegenüber der früheren Fassung – durch eine große Bedrohung gefährdet, sondern durch „viele kleine Kriege“, von denen jeder für sich das Inferno auslösen kann und die Fiktion kaum noch fiktiv ist, die Erinnerung an Hiroshima über Nagasaki bis zu Tschernobyl ist aktueller denn je.
Dass eine konzeptionelle Veränderung an Goethes Gedicht festgemacht wurde und das Gedicht gleichzeitig zum Leitmotiv aufstieg, hängt mit der Hauptgestalt zusammen: Der Schriftsteller Michel, arbeitend an einem Buch „Goethe als Minister“, war mit seiner Schwester auf Goethes Spuren unterwegs. Sie wurden durch einen Aufenthalt in einem Bergwerksstollen vor der Vernichtung gerettet; von dort konnten sie sich in den Artushof retten. Dass Goethe eine so dominierende Rolle einnimmt, ist wiederum konzeptionell bedingt: Konfrontiert wird dadurch Goethes Humanitätsentwurf, zu denken ist an seine „Iphigenie auf Tauris“, mit dem Verlust von Humanität und der Zunahme von Brutalität und Barbarei in der Gegenwart. Darauf zielen die Veränderungen zwischen den Fassungen von 1983 und 2016.
Im Artushof treffen der Erzähler und seine Schwester auf Menschen, die wie sie durch eine atomare Explosion dahin verschlagen wurden; sie alle werden am Weggehen gehindert, weil ihre Schuhe entwendet wurden, zu ihrer Sicherheit, wie sich herausstellt.
Weggehen wäre unsinnig, da außerhalb des Hotels das Chaos ist, das die Hotelgäste im Begriff des „irren Winters“ fassen. Als Wasser und Nahrung zu Ende gehen, sich das Warten aber gelohnt hat, denn ein Kind – ein Christophorus – wird geboren, brechen sie ins Ungewisse auf. Die Menschen sind – ungewohnt bei Panitz – kaum individualisiert, sondern erscheinen als Typen; der Eisenbahner, die Schauspielerin, der Hoteldirektor, der Arzt usw. Diese einsichtige Reduktion der Gestalten gehört zur Anlage als Gleichnis, als Allegorie; anders ist es bei den Gegnern, die nicht als Typen erscheinen, sondern als Schablonen wie „Verbrecher“, „Kriegstreiber“, „Massenmörder“ und daher unkonkret, fast banal wirken.
Im Bemühen, sein über weite Strecken eindringliches Erzählen zu untermauern und zu legitimieren, fügte Panitz als Tagebuch Maxims – umfangreicher als in der früheren Fassung – wissenschaftliche Analysen und Aufsätze u. a. des Physikers und Friedensforschers Carl Friedrich von Weizsäcker ein. Das ist gut gemeint, aber misslingt. Die emotional aufgeladene Allegorie und Fiktion erträgt diese sachliche Wissenschaftlichkeit nicht, beide stören sich gegenseitig; die Übertragung von Material ins Erzählen ist nicht zu Ende geführt. Allenfalls in einem Anhang hätten diese Materialien ihren Platz haben können.
„Wir hatten zusammengehalten und überlebt“ ist eine Erkenntnis; kaum mehr hat der Erzähler zur Hand, er schreibt nicht aus einer Situation der Stärke heraus. Die Zukunft, in die die Gescheiterten aufbrechen, besteht aus dem besitzlosen Leben, nichts anderem. Neben einer fesselnden Lektüre sind beide Bücher im Vergleich ein historisches Dokument über die gefährliche Veränderung nach 1990, entgegen von Erwartungen und Versprechungen. Die Grenzen des neuen Buches liegen in den traditionellen Vorstellungen des Autors von atomarer Vernichtung, die er einbringt. Im Zeichen des heutigen Terrorismus, des Cyberkrieges und der asymmetrischen Kriege sind die Gefahren noch unvorstellbar entsetzlicher geworden als Panitz sie gleichnishaft in einer zufälligen oder absichtsvollen Kernexplosion beschreibt. Aber auch die Gegenentwürfe, die Mythen von Frieden und Humanität, die Klassik und Botschaften Goethes, werden im Zeitalter des Vordringens von Brutalität und Verrohung in der Breite kaum wirksam werden. Dennoch ist es notwendig, auf sie zu verweisen: „Jeder war mir nahe, der mehr als allem anderem der sanften Gewalt der Vernunft vertraute.“