The Quiet Girl („An Cailín Ciúin“, Das Stille Mädchen) – Colm Bairéads Verfilmung der Erzählung „Foster“ von Claire Keegan („Das Dritte Licht“, Deutsch von Hans-Christian Oeser) – gewann 2022 als erster irischsprachiger Film bei der Berlinale den „Großen Preis der Internationalen Jury Generation Kplus“.
Die neunjährige Cáit, äußerst sensibel dargestellt von Catherine Clinch, wird zu Verwandten ihrer Mutter geschickt, um den Sommer bei ihnen zu verbringen. Solche Patenschaft hat in Irland eine lange Tradition, nicht nur in der Arbeiterklasse, sondern bereits in der gälischen Gesellschaft der Vergangenheit, damals um familiäre oder politische Bindungen zu stärken. Den Pflegeeltern oblag die Pflicht, ihre Pflegekinder wie die eigenen zu versorgen und zu bilden. Doch hier, 1981 im irischen Waterford, erhält Cáit all die Aufmerksamkeit, Liebe und Fürsorge, die ihr zu Hause fehlen. Im Film ausgespart, was in der Erzählung leise anklingt: Es sind Jahre der Massenarbeitslosigkeit, der Emigration, der Hungerstreiks – und der ungebrochenen Macht der Katholischen Kirche. Diese ist auf der Leinwand kaum dargestellt – ein Herz-Jesu-Bild an der Wand, eine flüchtige Erwähnung der Sonntagsmesse – doch ihre Auswirkungen auf Cáits Eltern sind deutlich zu spüren, sie haben mehr Kinder, als sie versorgen können.
Als Gegengewicht fängt das Drama auf einfühlsame Weise das menschliche Bedürfnis nach mehr als nur Obdach und Nahrung ein – das Bedürfnis eines Kindes, in jeder Hinsicht wachsen zu dürfen. Dazu gehört der humane Umgang mit anderen Menschen und der Umwelt, ein Wachsen an Menschlichkeit. Catherine Clinch stellt in der Rolle der Cáit sehr überzeugend die hemmenden Auswirkungen von Armut und mangelnder Geborgenheit auf die Entwicklung eines Kindes dar sowie die zutiefst positive und humanisierende Wirkung einer liebevollen, ermutigenden Umgebung.
Die Pflegeeltern Eibhlín und Seán haben selbst eine Tragödie erlebt und ihre Fürsorge wird vor diesem Hintergrund gezeigt, ist davon geprägt. Die Erzählperspektive bleibt jedoch die von Cáit und Zuschauer können nur so viel erahnen, wie dem stillen, wachsamen jungen Mädchen während ihres Sommeraufenthalts klar wird. Die enge, schmale Kameraführung von Kate McCullough, in Zusammenarbeit mit dem Regisseur sowie mit dem Cutter John Murphy, reflektiert die Beschränkungen des kindlichen Blicks auf die Welt. Im Elternhaus bewirkt dieses Format ein Gefühl des Halbverstehens sowie des Gefangenseins: Dinge und Personen werden oft vom Rahmen nur halb erfasst. Dieser Blick beginnt sich bei den Verwandten zu erweitern, obwohl auch hier – dem Kinde angemessen – nicht alles sichtbar ist. Der Komponist Stephen Rennicks geht ebenfalls sehr behutsam vor – seine Musik untermalt sanft die natürliche Klanglandschaft Irlands.
Cáit spricht mit ihren Geschwistern, ihrer Mutter sowie mit den Pflegeeltern Irisch. Mit dem Vater spricht sie Englisch und Englisch wird auch von den meisten Nachbarn gesprochen. Damit vermittelt Irisch ein besonderes Gefühl von potenzieller und tatsächlicher Nestwärme. Das Englische erweckt hingegen den Eindruck von Abstand, ist gefühlt kühler. Irisch bedeutet Sicherheit, Geborgenheit. Dass Cáits Mutter ihr Potenzial nicht erfüllen kann, liegt an ihrer eigenen emotionalen Vereinsamung inmitten der wachsenden Kinderschar und dem lieblosen Ehemann. Ihre inhärente Möglichkeit ist in ihrer Cousine Eibhlín gegenwärtig. Die humanisierende Rolle der Muttersprache fügt Bairéad der Erzählung in seinem Film neu hinzu.
Filme wie „The Quiet Girl“ stellen die Dominanz der englischsprachigen Filmindustrie und die ihr innewohnende koloniale Weltsicht in Frage und beweisen, dass Irland über die Klischees und Stereotypen des englischsprachigen irischen beziehungsweise Hollywood-Kinos hinauswachsen kann. Indem sie die Realitäten der irischen Gesellschaft und Geschichte thematisieren, leisten sie einen echten künstlerischen Beitrag und schöpfen die humanisierenden Qualitäten der Kunst voll aus. Dass dies in irischer Sprache geschieht, ist dem angemessen.
The Quiet Girl
Regie: Colm Bairéd
Unter anderem mit: Catherine Clinch, Carrie Crowley, Andrew Bennett und Kate Nic Chonaonaigh
Im Kino