Man wäre kaum überrascht, die folgende Polemik in einem Artikel über den Zustand der gegenwärtigen Psychologie zu finden: „Das Paradoxe besteht darin, dass sich gegenwärtig trotz aller theoretischen Schwierigkeiten in der ganzen Welt unter dem direkten Druck der Forderungen des Lebens das Entwicklungstempo der psychologischen Forschung außerordentlich beschleunigt. Dadurch hat sich der Widerspruch zwischen der Unmasse an Faktenmaterial (…) und dem kläglichen Zustand ihres theoretischen, ihres methodologischen Fundaments noch mehr verschärft. Nachlässigkeit und Skepsis gegenüber einer allgemeinen Theorie des Psychischen, Datenfetischismus und Szientismus (…) wurden zu einer Barriere auf dem Wege zur Untersuchung genereller psychologischer Probleme.“ Sie stammt aus „Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit“, einem erstmals 1975 veröffentlichten Werk des sowjetischen Psychologen Alexei Leontjew (1903 bis 1979), dessen Geburtstag sich am 18. Februar zum 120. Mal jährt. Die selbstbewusste Kritik an der „eklektischen Suppe“ der traditionellen Psychologie speist sich aus dem Bewusstsein, über ein neues wissenschaftliches Herangehen an diese Einzelwissenschaft auf marxistischer Grundlage zu verfügen.
An der Entwicklung einer marxistischen Psychologie nahm Leontjew bereits früh teil: Ab 1924 arbeitete er mit den sowjetischen Psychologen Lew Wygotski und Alexander Lurija zusammen und knüpfte, wenn auch nicht immer reibungslos, an Wygotskis Arbeiten an. Ab 1932 leitete er eine eigene Gruppe in Charkow, um die geistige Entwicklung von Kindern zu untersuchen. Sein Werk „Probleme der Entwicklung des Psychischen“ wurde 1963 mit dem Leninpreis ausgezeichnet. Leontjew, Wygotski und Lurija werden immer noch in einem Atemzug genannt als führende Vertreter der kulturhistorischen Schule. Diese bildete sich als Antwort auf die Anforderung, die sich nach der Oktoberrevolution für die Einzelwissenschaften stellte: Ihre Theorien auf eine marxistische Grundlage zu stellen, obwohl doch die bisherige Theoriebildung und experimentelle Praxis unter kapitalistischen Bedingungen erfolgt war. Methodisch zeichnen sich die Arbeiten der kulturhistorischen Schule – gerade auch Leontjews – durch ein historisch-genetisches Herangehen aus, das die Natur-, Gesellschafts- und Individualgeschichte in die wissenschaftliche Erschließung eines Gegenstands einfließen lässt.
Mit Leontjews Namen verbindet sich vor allem die sogenannte Tätigkeitstheorie. Auch wenn gegenständliche Tätigkeit eine wesentliche Kategorie bei Leontjew ist, lässt sich diese nur im Zusammenhang mit einem weiteren Schlüsselbegriff verstehen – dem der Widerspiegelung. Dessen Einführung in die Psychologie misst Leontjew maßgebliche Bedeutung bei, hält aber gleichzeitig fest, dass dies mit der grundlegenden kategorialen Umgestaltung der Psychologie einhergehe. Das Verhältnis von Tätigkeit und Widerspiegelung rückt bei Leontjew ins Zentrum seiner Theorie.
Auf die immer wiederkehrende Frage, ob die Welt im Kopf von uns konstruiert sei, gibt es laut Leontjew denn auch „eine ganz einfache Antwort: Wir schaffen tatsächlich, doch nicht die WELT, sondern das ABBILD, indem wir es, wie ich gewöhnlich sage, aktiv aus der objektiven Realität ‚herausholen‘.“ (1982a). Hier deutet sich der Zusammenhang zwischen Tätigkeit und Widerspiegelung an. Das Bild der Welt im Kopf entsteht nach Leontjew eben gerade nicht durch die einseitige Einwirkung des Objekts auf die Sinnesorgane, sondern in der tätigen Auseinandersetzung mit diesem.
Wahrnehmung wird so als aktiver Prozess aufgefasst. Auf dieser Grundlage erfasst Leontjew die dialektische Struktur des Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt: „In der Tätigkeit erfolgt auch der Übergang des Objekts in seine subjektive Form, in das Abbild; gleichzeitig erfolgt in der Tätigkeit auch der Übergang der Tätigkeit in ihre objektiven Resultate, in ihre Produkte. Nimmt man die Tätigkeit von dieser Seite, fungiert sie als ein Prozess, in dem die wechselseitigen Übergänge zwischen den Polen ‚Subjekt – Objekt‘ verwirklicht werden. ‚In der Produktion objektiviert sich die Person, in der Konsumtion subjektiviert sich die Sache‘, schreibt Marx.“ (1982b)
Dialektisch Geschulte mag Leontjews Verwendung des „Abbild“-Begriffs irritieren, zumal Leontjew die Widerspiegelung mit Abdrücken und Fotografien vergleicht. Bei der Widerspiegelung handelt es sich schließlich gerade nicht um eine starre Darstellung der Welt nach eigenem Gutdünken, sondern um eine Spiegelung, die in einem Spiegel den Gegenstand dynamisch in seinen Relationen darstellt, wenn auch notwendig perspektivisch und häufig verzerrt. Die Verwunderung über Leontjew löst sich aber rasch auf, denn: „Das Abbild ist kein Bild!“ (1982a). Gerade strukturelle Beziehungen und Verhältnisse zwischen Objekten wie auch zum Subjekt spielen bei Leontjew eine entscheidende Rolle. Besonders deutlich wird das, wenn er über unsere Wahrnehmung der Eigenschaften von Gegenständen spricht. Diese erschließen sich uns zudem nicht einfach als dem Gegenstand anhaftend, sondern erst durch die Einwirkung anderer Objekte auf ihn, im Verhältnis zu und in Wechselwirkung mit anderen Gegenständen. Damit lässt sich auch die historisch-genetische Herangehensweise selbst aus dem Widerspiegelungsverhältnis heraus begründen, ist also nicht einfach gesetzt. Nur wenn man den Gegenstand in seiner Entwicklung untersucht, kann man seine relative Stellung im Verhältnis zu anderen erfassen und damit seine Eigenschaften, wenn man annimmt, dass diese dem Gegenstand nicht einfach sichtbar anhaften, sondern sich im Verhältnis zu anderen Gegenständen ergeben.
Leontjew arbeitet verschiedene Stufen der Widerspiegelung heraus. Als entscheidenden Schritt für die Herausbildung der Psyche macht er die Sensibilität aus, den Schritt von der Reizbarkeit durch physischen Kontakt mit unmittelbar fürs eigene Überleben relevanten Reizen zur Wahrnehmung auch entfernterer Umweltaspekte ohne direkten Einfluss wie ein entferntes Geräusch. Mit der Entkopplung vom direkten Einfluss erreicht die nun vermittelt stattfindende Widerspiegelung eine neue Stufe: „Die Prozesse der aktiven visuellen oder akustischen Wahrnehmung werden von der unmittelbaren Praxis getrennt, so dass sowohl das menschliche Auge als auch das menschliche Ohr, einem Ausdruck von Marx zufolge, zu theoretischen Organen werden.“ (1982b) Beim Menschen erreicht sie mit dem Bewusstsein eine weitere. Dieses „ist nicht von Anfang an gegeben und wird nicht durch die Natur erzeugt: Das Bewusstsein wird durch die Gesellschaft erzeugt, es wird produziert. Daher ist das Bewusstsein nicht Postulat und nicht Bedingung der Psychologie, sondern ihr Problem, Gegenstand konkret-wissenschaftlicher Untersuchungen.“ Leontjew zufolge lassen sich unsere höheren kognitiven Funktionen auf die Gesellschaft zurückführen, so dass die ganze menschliche Praxis in die jeweils individuelle Entwicklungsgeschichte einfließt. Im Abbild gewinnt die Welt für den Menschen eine „fünfte Quasidimension“ (1982a), neben Raum und Zeit ein System der Bedeutungen, das jedoch der Welt nicht einfach subjektiv zugeschrieben wird, sondern die objektive Welt mehr oder weniger korrekt repräsentiert. Damit verknüpft er Natürlichkeit und Gesellschaftlichkeit, natur- und gesellschaftsgeschichtliche Entwicklung so, dass deutlich wird, wie unsere Wahrnehmung von beidem geprägt ist.
Breit rezipiert werden Leontjews Werke trotz gelegentlicher Moden heute nicht. Die kulturhistorische Schule findet zwar in der Psychologiegeschichte ihre Erwähnung, die Aneignung ihrer Theorien erfolgt jedoch – wenn überhaupt – höchst selektiv. Damit aber fällt genau das unter den Tisch, was die Stärke des Ansatzes ausmacht: die Zielstellung vom „Aufbau eines widerspruchsfreien Systems der Psychologie als einer konkreten Wissenschaft von der Entstehung, vom Funktionieren und von der Struktur der psychischen Widerspiegelung der Wirklichkeit, die das Leben der Individuen vermittelt“ (1982b).
Zitierte Werke:
Leontjew, A. N.: Psychologie des Abbilds. In: Forum Kritische Psychologie 9 (1982), (1982a)
Leontjew, A. N.: Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit. Campus, Köln (1982) (1982b)