„Sind die Bullen aggressiv, komm zum Anwaltskollektiv“ – in der geruhsamen Schweiz ist 1980 weniges geruhsam: Mit brutaler Härte geht die Polizei gegen für ein Autonomes Jugendzentrum demonstrierende Jugendliche vor, für alternative Kultur soll kein Geld da sein, das Opernhaus in Zürich aber für 60 Millionen Franken renoviert werden. Nicht nur in Zürich, sondern auch in Lausanne, Basel und Bern entlädt sich der Frust der Jugend über die herrschenden Verhältnisse in teils gewalttätigen Protesten. Den Höhepunkt finden sie am 30. Mai 1980 in einer Demo, die später als die „Opernhaus-Krawalle“ bekannt wurde.
Mittendrin ist Barabara Hug, Juristin beim „Anwaltskollektiv“. Durch die Fehlbehandlung eines Tumors in ihrer Kindheit auf Krücke und regelmäßige Dialyse angewiesen, tritt sie dem Anwaltskollektiv bei, das sich vor allem für die Menschen einsetzt, die sich keinen juristischen Beistand leisten können, für Linke und Jugendliche aus der Protestbewegung der 1980er Jahre. Hug nutzte – selbst völlig unbeeindruckt von ihren körperlichen Gebrechen – den Gerichtssaal als Bühne. So diktierte sie in einem Plädoyer der anwesenden Presse in die Notizblöcke, die „ganze Schweiz sei ein Gefängnis“, und konnte damit auch die Verurteilung ihrer Mandantin zur „Nacherziehung“ verhindern. Eines Tages sucht der soeben wieder geflohene „Ausbrecherkönig“ Walter Stürm den Kontakt zu Barbara Hug. Sie wird seine Anwältin, hilft ihm dabei, die Schweiz zu verlassen, stellt Kontakte zur RAF her und kann doch nicht verhindern, dass Stürm, zur Ikone der linken Bewegung in der Schweiz geworden, sich weiterhin nur für sich interessiert.
Der deutsche Regisseur Oliver Rhis erzählt die Geschichte nach wahren Begebenheiten laut und plakativ. Der Film beginnt mit einer schwarzen Leinwand und gedämpftem Ton, und wenn der Zuschauer sich gerade beginnt zu fragen, ob technisch etwas schiefgelaufen ist, wird eine Tür aufgerissen. Der erste Blick der Zuschauerinnen und Zuschauer auf die Proteste am Opernhaus fällt aus einer Bullenwanne: Gefangene rein, Tür wieder zu, erneut Dunkelheit. Barbara Hug lässt sich mit in die Wanne sperren, denn da kann sie mit ihren zukünftigen Mandanten reden: „Ich hole euch hier raus!“
Zur gleichen Zeit bricht der Industriellensohn und Berufsverbrecher Stürm aus dem Knast aus. Er wird zum Idol der linken Jugendbewegung, als er wieder verhaftet und in Isolationshaft gesperrt wird, bildet sich eine lautstarke Solidaritätsbewegung. Im Film wird Stürm von der RAF aus dem Knast befreit, Barbara Hug hat es eingefädelt, im wahren Leben steht bis heute die Frage im Raum, ob er Helfer aus der Jugendbewegung hatte oder eventuell von den „Roten Brigaden“ – die RAF war es mit ziemlicher Sicherheit nicht. Diese Unstimmigkeiten machen es nicht leichter, der Geschichte um Stürm und Hug zu folgen. Die linke Anwältin, die die Welt verändern möchte, verliebt sich in den Verbrecherkönig, der nur an sich selbst interessiert ist. Das wirkt teilweise wie eine platte Gegenüberstellung der Konzepte von gesellschaftlicher und individueller Freiheit, da hilft auch die wunderbare Darstellung Barbara Hugs von Marie Leuenberger nicht. Beide kämpfen gegen ihre individuellen Dämonen – den übermächtigen Vater und den kranken Körper – und kommen zu unterschiedlichen Schlüssen, wie sie ihre Leben gestalten – und auch beenden – wollen. Stürm nahm sich 1999 im Knast das Leben, der Film spielt an, dass er es darauf angelegt hatte, bei der Verhaftung erschossen zu werden. Barbara Hug trotzte ihrem kranken Körper, ohne ihm jegliche Rücksicht zukommen zu lassen. Sie starb 2005 in einem Züricher Krankenhaus. Ihre Kollegen verabschiedeten sich in einer Anzeige mit den Worten: „Wo Unrecht Recht wird, ist Widerstand Pflicht.“
Bis wir tot sind oder frei
Regie: Oliver Rhis
Unter anderem mit: Joel Basman, Marie Leuenberger, Jella Haase
Im Kino