Über den Zusammenhang von Kunst, Krieg und Propaganda seit dem 24. Februar 2022

Die Fortsetzung des Schützengrabens

Mesut Bayraktar

Schon der Begriff der „Zeitenwende“ muss jedem klassenbewussten Marxisten in Deutschland verdächtig vorkommen. War nicht jede bisherige „Wende“ in der Geschichte Deutschlands eine Paraphrase für ein konterrevolutionäres Manöver, von der konservativen Wende Bismarcks und der Jagd auf Sozialisten bis zum Wende-Pathos der 1990er Jahre und dem Triumphzug des Antikommunismus? Ähnlich stellt die „Zeitenwende“ ihre Weichen. Sie steht symbolisch für die Umstellung des deutschen Imperialismus von der verdeckten Offensive in den 1990er Jahren in die offene Konfrontation im 21. Jahrhundert.

Seit der vom Bundeskanzleramt festgelegten „Zeitenwende“ am 24. Februar 2022 zeichnen sich neue Konturen auch im kapitalistischen Überbau ab. Das gilt vor allem hinsichtlich der Rolle und Funktion bürgerlicher Intellektueller und Künstler, aber auch solcher, die sich unter ihnen als Linke verstehen, aber vergessen hinzuzufügen, dass es auch bürgerliche Linke gibt. Die Bedeutung von Wörtern verändert sich, Gefühle werden mit zusätzlichen Mitteln gelockt, Leidenschaften mittels ästhetischer Formen in die Ziele bürgerlicher Klasseninteressen gelenkt.

Der Zusammenhang von Krieg, Kultur und Propaganda betrifft die Frage nach der ideologischen Formierung der Heimatfront durch die herrschende Klasse im eigenen Land. Die folgenden Thesen, erstmals für einen Vortrag entwickelt, werfen Schlaglichter auf diesen Zusammenhang. Die Beispiele sind gerade wegen ihrer Besonderheit exemplarisch für die öffentliche Stimmung.

Einführung des Kriegsalphabets

Kulturelle Hegemonie ist die Macht einer Klasse, die allgemeinen Grenzen des Sagbaren zu bestimmen. Der Kampf um die Köpfe ist immer dann fruchtbar, wenn ein Kampf um die Herzen den Boden aufweicht. Das Herz ist sensibler, zerbrechlicher, intimer und kann deshalb in der Analyse politischer Herrschaftstechnik nicht wichtig genug eingeschätzt werden. Seit dem 24. Februar 2022 gilt das Kriegsalphabet.

Zum Beispiel hat der Journalist Tobias Rapp mit der Revision seiner Wehrdienstverweigerung bei der Debatte um die Wehrpflicht für großes Aufsehen gesorgt. Das Handwerk bei „Jungle World“ gelernt, schreibt Rapp nun für den „Spiegel“, wo er im Februar 2023 erklärt, warum der Griff zur Waffe im NATO-Dienst der Bundeswehr eine Pflicht für ihn ist. Nach dreißig Jahren wisse er, dass er es sich damals „zu einfach gemacht habe“. Wenn sein Sohn an der Reihe wäre, er würde ihn dazu ermutigen.

Ein anderer öffentlichkeitswirksamer Fall ist Andreas Frege, besser bekannt als Frontsänger der „Toten Hosen“, Campino. Im Mai 2022 sagt er der „Deutschen Presse-Agentur“, dass er 1983 den „Kriegsdienst“ verweigert hatte. „Das würde ich heute, unter diesen Umständen, wenn ich jetzt meine Einberufung bekäme, wahrscheinlich nicht mehr tun“, und fügt hinzu: „Das hat dann leider auch etwas mit Aufrüstung zu tun.“ Er verortet sich selbst „politisch links und als Wähler bei den ‚Grünen‘.“ Die Reihen der Heimatfront werden geschlossen und an der Front werden die jungen Körper der arbeitenden Klasse verheizt – nicht die von den Rapp und Campino.

Das Wort Frieden hat im Kriegsalphabet nur Platz als Steigbügelhalter für die Interessen des deutschen Kapitals. Wenn bürgerliche Künstler und Intellektuelle von Frieden sprechen, meinen sie seitdem einen Siegfrieden, und das bedeutet in der Praxis: Hochrüstung, Feldzugspläne, Mobilmachung, Bellizismus.

Immersiv in den Krieg

Die Kulturindustrie ist die PR-Agentur des Kapitalismus. Ihr Arbeitsgegenstand sind Gefühle. Gefühle sind einer der wichtigsten Hebel der Kriegspropaganda. Die Zustimmung zum Krieg wird heute durch immersive (einbettende, eintauchende – UZ) Einfühlungspraktiken gewonnen. Nicht mehr durch Lesen, Lärm, Geschrei, Geglotze – das totale und allseitige Erlebnis der Kriegsfront im virtuellen Raum (im Theater, im Kino, beim Gaming, mit der VR-Brille) schreibt den Militarismus in Seelen und Körper ein.

Im Schauspiel Stuttgart wurde im Mai „City X. Fragmente eines Kriegs“ unter der Regie von Gernot Grünewald angeboten, mit Texten von Luda Tymoshenko und Maryna Smilianets. Das Publikum spaziert mit Kopfhörern durch die Stuttgarter Innenstadt und hört im Ohr die Stimme eines Schauspielers, der Geschichten erzählt und Anweisungen gibt. Einige Haltestellen sind zu Schutzbunkern, Schützengräben, Lazaretten präpariert. So wird „eine Kriegswirklichkeit auf unseren tagtäglich erlebten Frieden“ projiziert (Selbstbeschreibung im Programmheft). Stuttgart wird mit dem Kriegsalltag überschrieben. Der Kriegsfall im eigenen Land – durch den Überfall der russischen Armee – wird vorgefühlt.

Ein anderes Beispiel ist die Theaterperformance „Bomb Shelter Art Resistance Night“, die im Januar 2023 im Thalia Theater Hamburg aufgeführt wurde. Das Publikum verbringt von 23 Uhr bis 6 Uhr morgens mit abschließendem Frühstück eine ganze Nacht im „Bomb Shelter“, dem Schutzbunker, zu dem das Theater am Jungfernstieg verwandelt wird. Unter der Regie von Vlad Troitskyi nimmt man an einer parallelen Realität teil, begleitet vom „Sound des Krieges“, was Sirenengeheul, Kindergeschrei und andere Vernichtungsrhythmen bedeutet. Durchhaltelieder von den ukrainischen Bands „Dakh Daughters“, „Ragapop“ und „Stus:Passerby“, die in ihren Songs positiven Bezug auf Stepan Bandera nehmen, werden zum Mitsingen angestimmt. Die virtuelle Umgebung wird als real empfunden. Das postdramatische Theater nennt das Immersion, das radikale Gegenteil des Brechtschen Eingreifens.

Solche Kunst ist die Fortsetzung des Schützengrabens an der ukrainischen Front in die deutschen Theater zur Vorwegnahme intensiver Kriegserlebnisse; nicht etwa zur Ächtung des Kriegs, sondern zur Einübung der Volksgemeinschaft. Angesichts solcher Erscheinungen müsste man von Kriegskulturindustrie sprechen.

Das totale, enthemmte Böse

Im Oktober 2022 wurde im Rahmen der Frankfurter Buchmesse der Friedenspreis des deutschen Buchhandels in der Paulskirche an den ukrainischen Schriftsteller und Musiker Serhij Schadan verliehen. Unter den 600 Gästen waren auch Claudia Roth (Grüne), Katrin Göring-Eckardt (Grüne) sowie Saskia Esken (SPD). Laut Stiftungsstatut wird eine Persönlichkeit ausgezeichnet, „die in hervorragendem Maße (…) zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen hat“. Der Preis ist mit 25.000 Euro dotiert und wird seit 1950 jährlich vergeben. Auch der Philosoph Ernst Bloch hat ihn einst erhalten.

In ihrer Laudatio zieht die Autorin Sasha Marianna Salzmann eine direkte Linie zwischen Schadan und einem der bedeutendsten US-amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts, James Baldwin, der gegen den Rassismus anschrieb. Schadans Werk zeuge von „humanistischer Haltung“ und er schaffe „Momente des Aufatmens durch radikale Menschlichkeit“. Schadan nimmt den Preis mit den Worten entgegen, dass Europäer um „eines falschen Pazifismus willen ein weiteres Mal das totale, enthemmte Böse (…) schlucken“. In seinem Buch „Himmel über Charkiw“, das im selben Monat erschien, stehen Sätze wie: „Die Russen sind Barbaren, sie sind gekommen, um unsere Geschichte, unsere Kultur, unsere Bildung zu vernichten.“ „Brennt in der Hölle, ihr Schweine.“ „Tod den russischen Invasoren.“ „Sie können unsere Häuser zerstören, aber nicht unsere Verachtung für sie. Unseren Hass.“ Die Menschen in Russland werden beschrieben als „Horde“, „Verbrecher“, „Tiere“, „Unrat“. Seither macht er Lesetouren durch Deutschland mit gefüllten Sälen und gutem Honorar.

Salzmann, die Jury, alle Verantwortlichen wussten um den Völkerhass in den Bücher Schadans. So entpuppt sich der Friedensgedanke als Farce und die Idee von der Universalität der Menschheit wird verkürzt auf einen Teil der Völker.

Die Losung vom 8. Mai 1945 „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“ wird seit dem 24. Februar 2022 im selben Atemzug mit dem faschistischen Bandera-Gruß „Slawa Ukraini“ – „Ruhm der Ukraine“ – ausgerufen, besonders eifrig von Politikern der „Grünen“, denen es Jamila Schäfer im Bundestag vormacht. Gleichzeitig verbreiten die kommerziellen Medien ohne kritischen Kommentar das antisowjetische „Holodomor“-Narrativ. Schubweise wird nationalistischer Heldenkult und Nazi-Symbolik enttabuisiert, zum Beispiel mit der euphemistischen Berichterstattung über das Asow-Regiment.

Der Import des ukrainischen Nationalismus ist ein Vehikel für die Verbreitung bellizistischer und antikommunistischer Stimmung in der deutschen Öffentlichkeit, ebenso wie der Krieg in der Ukraine ein Vehikel für die rasante Militarisierung der deutschen Wirtschaft und Politik ist. Künstler, die nicht mitziehen, sind potenzielle Hochverräter.

Die Diskurslüge in der Öffentlichkeit

Die Bürgerlichen stellen die Frage immer so: Bist du für die eigene herrschende Klasse oder für die herrschende Klasse einer ausländischen Macht? Deshalb wird jede ehrliche Friedensposition, jeder Antimilitarismus mit der Propaganda der feindlichen Bourgeoisie im Ausland – mit „Putin-Propaganda“ – identifiziert. Dann braucht man nicht über Frieden zu sprechen. Man macht es so wie Sascha Lobo, der in seiner „Spiegel“-Kolumne vom April 2022 vom „deutschen Lumpen-Pazifismus“ spricht.

Er schreibt: „Es scheint mir kaum möglich, die eigene Ungerührtheit im Angesicht totgebombter Kinder noch maliziöser zu feiern“, und tut so, als würden Kriege nicht immer den Tod von Kindern bedeuten, ob im Jemen, in Palästina oder im ehemaligen Jugoslawien, wo die NATO mitgebombt hat. Kurzerhand wird aus dem russischen Präsidenten der „russische Faschistenführer“. Das ist Kriegshetze in Reinkultur. So wird die spontane Solidarität der hiesigen Bevölkerung mit dem unterlegenen Volk emotional zugunsten der Klasseninteressen der Bürgerlichen im eigenen Land erpresst.

Deniz Yücel ist besonders gewieft in demagogischer Rhetorik. Als Präsident des PEN-Zentrums Deutschland erklärte er im März 2022 beim „Spiegel“, dass jede türkische Kampfdrohne „mehr für die Verteidigung der Ukraine geleistet (hat) als alle deutschen Beiträge zusammen“. Solidarität müsse man auch mit den Kämpfenden üben, also die Ukraine zum EU-Kandidaten erklären, Luftabwehr- und andere Waffen liefern, eine NATO-Flugverbotszone einführen. Dass solche Forderungen „unkalkulierbare Risiken in sich bergen (…) im Extremfall bis zum Atomkrieg“ führen, ist Yücel bewusst, doch „Freiheit“, „Menschenrechte“, „Frieden“ dürfe man „Militärexperten allein nicht überlassen. (…) Journalisten, Intellektuelle und Künstler haben ein Privileg, das zugleich Verpflichtung ist“, nämlich dasselbe wie er zu fordern. Leute wie Yücel geben im Einvernehmen mit der NATO-Ideologie nur die eine Wahl: entweder bist du für den Krieg, wie wir es wollen, oder deiner Kunst, deinen Büchern wird jede Sichtbarkeit entzogen

Es liegt an linken Künstlern und Intellektuellen, diese Diskurslüge zu entlarven und die Frage insofern richtigzustellen, dass ihre Kriege den Interessen der arbeitenden Klasse und den Unterdrückten grundlegend entgegenstehen.

Aus taktischer Prinzipienlosigkeit

Linke Kunst, die wehtut, gelingt nur mit Klassenbasis. Es geht um die Organisierung einer proletarischen Gegenkultur. Sie setzt den Aufbau von roten Infrastrukturen voraus. Sonst sind linke Künstler und Intellektuelle der Erpressung der hinter dem freien Markt die Konjunkturen festlegenden Bürgerlichen ausgesetzt. Im schlimmsten Fall machen sie sich über ihre Wirksamkeit Illusionen: Sie werden opportunistisch und plappern nach, was die Staatsräson vorgibt, oder unterschreiben das aus taktischer Prinzipienlosigkeit entwickelte Wagenknecht-Schwarzer-Manifest und halten das für eine rebellische Großtat.

Keineswegs bedeutet rote Infrastruktur, den hedonistischen Exit eines Fusion-Festivals als Blaupause zu nehmen oder sie mit der lebendigen Szene des linken Deutsch-Rap zu verwechseln. Nicht fernab – mitten im Alltag muss eine entsprechende Infrastruktur wirksam werden, die Mittel für gegenkulturelle Einmischungen bereitstellt. Es geht um die dauerhafte Zusammenführung von linken Künstlern und Intellektuellen mit der arbeitenden Klasse und den Unterdrückten anhand von Formaten und Institutionen, die eine proletarische Gegenöffentlichkeit anvisieren. Lehren für den Aufbau eines rotes Mediennetzwerks mit Massentauglichkeit lassen sich etwa bei der Kulturarbeit der KPD in den 1920er Jahren und den Innovationen des KPD-Politikers Willi Münzenberg ziehen.

Seit dem 24. Februar 2022 zeigt sich mit greller Deutlichkeit, dass der Krieg ein immanenter Bestandteil kapitalistischer Gesellschaften ist. Gesellschaftskritik bei gleichzeitigem Schweigen über den Krieg ist nicht kritisch. Mit Antikapitalismus hat das erst recht nichts zu tun.

Die Zukunft, eine Verbündete

Die Forderung nach Frieden bleibt ohne den Kampf für Sozialismus eine leere Hülle. Oder wie die Genossen im Laufe der proletarischen Klassengeschichte angesichts multipler Krisen des Kapitalismus zu sagen pflegten: ein frommer Wunsch. Klassenkampf läutert selbst Künstler und Intellektuelle von Frömmigkeit und Wunschträumen.

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"Die Fortsetzung des Schützengrabens", UZ vom 3. November 2023



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