Eine Woche der Anschläge auf Flüchtlinge

Die Flöten und ihre Ratten

Von Lars Mörking

Die Liste der Orte ist lang und wird länger: Remchingen-Singen bei Karlsruhe, Waldaschaff im Landkreis Aschaffenburg, Böhlen bei Leipzig, Sukow-Marienhof, Halberstadt, Reichertshofen, Prien, Greifswald … Hier wurden allein in der vergangenen Woche Anschläge auf Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte verübt. Das Bundesinnenministerium zählte im ersten Halbjahr 2015 insgesamt 150 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte, andere zählen gründlicher.

Die große Koalition gegen Flüchtlinge ist in Arbeit. „Bürgerliche“ Politiker machen sich bereits zum Sprachrohr besorgter Anwohner, die sich durch die Unterbringung von Flüchtlingen in ihrer Nachbarschaft bedroht sehen. In Ungarn ist man weiter: Hier werden Grenzzäune gezogen und der Staat arbeitet seit Jahren Hand in Hand mit einem braunen Mob, der sich in bestimmten Gebieten bereits als Ordnungsmacht fest etabliert hat. Faschisten in der Ukraine und in Griechenland nutzen Krieg und Krise, um Völker gegeneinander zu hetzen. Sie wollen Nation und Heimat gegen eine Bedrohung von „außen“ schützen – es darf aber auch eine „innere“ Minderheit oder politische Gruppierung sein. Das Bündnis zwischen rassistischem Mob und „großer“ Politik kennen wir aus der jüngsten deutschen Geschichte. Keine 25 Jahre ist es her, dass in Mölln, Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mannheim-Schönau Pogrome im frisch erweiterten Großdeutschland möglich wurden.

Mit der am 26. Mai 1993 erfolgten faktischen Abschaffung des Asylrechts durch eine große parlamentarische Mehrheit musste sich der rassistische Mob bestätigt fühlen. Die Änderung des Grundgesetzes (GG) enthielt die Einschränkung des abstrakt formulierten Grundsatzes in Absatz 1 des Artikels 16a GG („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“). Durch die „Drittstaatenregelung“ kann sich kein Flüchtling mehr auf das individuelle Grundrecht auf Asyl berufen, wenn er über eine Landgrenze in die Bundesrepublik Deutschland einreist. Flüchtlinge, die in Italien, Griechenland, Spanien ankommen, kriegen die Auswirkungen solcher Regelungen zu spüren. Unterbringung und Verpflegung sind längst nicht mehr gesichert, an vielen Orten sind sie sich selbst überlassen (zur Lage der Flüchtlinge in Griechenland mehr im Interview auf Seite 2). Und dass, obwohl die inzwischen auf EU-Europa erweiterte Festung mit immer neuen Mitteln versucht, ihre Flucht unmöglich zu machen.

Die platten Losungen, die auch jetzt wieder Pegida-Deutsche ergreifen, lauten in etwa: „Es ist nicht genug für alle da, also können wir doch nicht noch mehr Menschen gebrauchen, mit denen wir das Wenige teilen müssen.“ Warum es in einem reichen Land wie Deutschland überhaupt Armut geben muss, und die Mehrheit der Bevölkerung sich einen immer geringer werdenden Anteil vom Reichtum teilt, bleibt außen vor.

Klar ist jedem guten Deutschen offenbar eines, nämlich dass es oben, wo der Reichtum auf Wenige verteilt ist, nichts zu holen gibt – also schaut man brav nach unten und tritt zu. Appelle der SPD (und neuerdings von Till Schweiger) setzen reichlich hilflos dagegen, dass es uns doch relativ gut geht. Der Anteil der deutschen Bevölkerung, den sie damit erreichen, wird spürbar kleiner.

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"Die Flöten und ihre Ratten", UZ vom 24. Juli 2015



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