Pünktlich vor dem 9. November wurde in den Medien wieder einmal Stimmung gemacht und auch der Toten an der „innerdeutschen Grenze“ gedacht. Schließlich konnte man in diesem Jahr zum 28. Mal an die Öffnung der Grenze zwischen DDR und BRD am 9. November 1989 erinnern. Doch dieses Mal wurden Zweifel an offiziellen Zahlen laut: In der „Abendschau“ des RBB vom 6. November beschäftigte sich der Sender mit einer Studie über die Anzahl der „Mauertoten“ und kam zu dem Schluss, dass die darin angegebene Zahl nicht stimmen kann. Doch auch in der RBB-Sendung ging es nicht – wie schon gar nicht in der Studie – um eine differenzierte Betrachtung der Nachkriegsgeschichte, des Kalten Krieges und seiner Folgen.
Die Studie war von der Bundesregierung 2012 in Auftrag gegeben worden. 2017 wurde sie von Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) gemeinsam mit den Autoren Klaus Schroeder und Jochen Staadt vom „Forschungsverbund SED-Staat“ der Freien Universität vorgestellt. Darin werden insgesamt 327 Todesopfer „an der innerdeutschen Grenze“ angeführt. Der RBB hält diese Zahl nun für zu hoch. Denn die Autoren hätten, so die Kritik, in der Untersuchung auch „Täter“ zu Opfern gemacht: Grenzoffiziere und -soldaten, die Suizid begangen hätten – persönliche Tragödien wurden politisch interpretiert –, Volkspolizisten, die gar nichts mit der Grenze zu tun hatten, sondern Opfer eines Amoklaufes wurden. Aus Sicht der Sendungsmacher waren das meist nur „gescheiterte Vollstrecker des Grenzregimes“. Mindestens 50 Fälle seien noch „zu klären“. In einem Fall ging es aber um einen früheren Angehörigen der Waffen-SS, der „in Moskau“ zu Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Auch ihn sah Staadt als „Opfer“, weil er von einem „Stasi-Mitarbeiter“ verraten worden sei. Angeblich wegen Fahnenflucht. Der RBB stellte klar, dass sich der frühere Angehörige der Waffen-SS nach dem Krieg bei der Volkspolizei beworben hatte und 1951 „Fahnenflucht“ begehen wollte. Verhaftet und an die sowjetischen Behörden übergeben wurde er aber u. a. wegen seiner Beteiligung an der Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener. Er hatte sich wohl selbst verraten, offen über seine „Taten“ geprahlt.
Kulturstaatsministerin Monika Grütters will die Fälle nun prüfen. Bewusst ausgeblendet bleibt, dass es eine „innerdeutsche Grenze“ zwischen DDR und BRD nie gegeben hat. Bekanntlich existierten auf deutschem Boden 40 Jahre lang zwei souveräne Staaten. Die Grenze zwischen diesen war bekanntlich zugleich die zwischen zwei gegensätzlichen, sich feindlich gegenüberstehenden Gesellschaftssystemen bzw. zwischen NATO und Warschauer Vertrag – und auch deshalb von besonderer Bedeutung. Das Grenzregime der DDR wurde wesentlich durch die führende politische und militärische Kraft der Staaten des Warschauer Vertrages, die Sowjetunion, bestimmt und war durch den Kalten Krieg und seine Folgen geprägt. Die DDR hatte da kaum einen Spielraum. Dieser Umstand war natürlich auch den bundesdeutschen Politikern bekannt. Das bestätigte zum Beispiel Egon Bahr am 15. Mai 1997 im sogenannten 2. Politbüro-Prozess gegen Egon Krenz und andere, zu dem er als Sachverständiger und Zeuge geladen worden war.
Das Konstrukt einer „innerdeutschen Grenze“ diente nach 1990 – zudem unter Aushebelung des Rückwirkungsverbotes – vor allem der politischen und juristischen Verfolgung von Militärs und politischen Funktionären der DDR. Sie wurden wegen Totschlags angeklagt, nicht wenige verurteilt. „Der Kalte Krieg ist beendet“, erklärte Egon Krenz am 16. Februar 1996 vor der 27. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin. „Aber die Feindbilder existieren fort, auch in diesem Gerichtssaal.“ Der tragische Tod von Menschen an der Grenze zwischen zwei Gesellschaftssystemen wird noch heute dazu missbraucht, die DDR weiter zu delegitimieren und als „Unrechtsstaat“ zu verteufeln. Und auch der RBB macht da weiter mit.