Eine „Verrohung der Sitten“ beklagte die Fachzeitschrift „Automobilwoche“ 2005 in einer Überschrift: „Die Automobilhersteller knebeln ihre Zulieferer.“ So klingt es, wenn diejenigen, die an die segnenden Kräfte des freien Marktes glauben, einmal bemerken, wie frei und segensreich dieser Markt in Wirklichkeit ist. Im September dieses Jahres schrieb die gleiche Zeitung: „Die Lieferanten stecken in der Preisdruck-Zange fest“ – und zitierte eine Studie des Stuttgarter Unternehmensberaters Hans-Andreas Fein: Der „äußerst brutale Druck der Autogiganten“ auf die Zulieferer nehme seit Jahrzehnten zu und treibe immer mehr Lieferanten an den Rand ihrer Existenz. „Inzwischen pressen nicht nur die Fahrzeugbauer ihre Teileproduzenten aus“, sondern diese geben den Druck an Unterlieferanten weiter, beschreibt Fein. Nach seinen Angaben forderten die Autohersteller von ihren Zulieferern in den Jahren 2017 und 18 im Schnitt Preisnachlässe von 4,6 Prozent – die Einkäufer der größten Zulieferer fordern dagegen von ihren Lieferanten Nachlässe von 5,3 Prozent. Die Einkäufer fordern pauschale Extrazahlungen und treten aggressiv auf, „die Gesprächsatmosphäre muss in zwei Dritteln aller Fälle als ‚schikanös‘ bezeichnet werden“. Fein berichtet, dass die Einkäufer mit Auftragsentzug oder dem günstigeren Angebot der Konkurrenz drohen, ihre Kunden lange warten lassen, für die Verhandlung stickige, unwirtliche Räume wählen und das Gespräch mit der verwirrenden Frage einleiten: „Warum kommen Sie erst so spät?“ Fein ist betroffen: „Diese Preisdrückerei entzieht einem langfristig verlässlichen Geschäft die Basis und ist in ihrer Form mit den Grundsätzen eines ehrbaren Kaufmanns nicht mehr vereinbar.“ Den Unternehmensberater und die „Automobilwoche“ empört daran, dass deutsche Mittelständler gefährdet werden – welche Folgen der Profit-Krieg für die Beschäftigten hat, interessiert sie nicht.
Pionier im Preiskrieg
Der Druck der Autokonzerne auf die Zulieferer war zum ersten Mal 1993 ein großes öffentliches Thema. Damals warb der VW-Konzern einen Herrn namens José Ignacio López vom Konkurrenten Opel ab. Der studierte Ingenieur war 1987 bei Opel als Chef des Einkaufs und kurz darauf als Chefeinkäufer von General Motors Europe (GM) eingestellt worden. Er zwang im Auftrag des Konzerns die Zulieferfirmen zu bis dahin unbekannten Zugeständnissen. Nicht mehr die Zulieferer nannten ihre Preise – die Einkaufsabteilung von GM diktierte diese. Die Lieferanten mussten zum Beispiel akzeptieren, dass sie in einem Zeitintervall von fünf Jahren Jahr für Jahr die Preise zu senken hatten, ungeachtet der wirtschaftlichen Verhältnisse in ihren Betrieben. Um den Druck zu erhöhen, führte er bei den Zulieferern sogenannte Audits ein, bei denen Unternehmensberater die jeweilige Firma durchleuchten. Bei VW baute López dann sein knallhartes Management weiter aus. Alle anderen Automobil-Hersteller übernahmen dieses Prinzip mehr oder weniger und verschärften es. Trotz aller Riesengewinne versuchen die Autokonzerne, ihren Profit weiter zu steigern. Mit ihren Konkurrenten kämpfen sie um Marktanteile – und mit den Zulieferern darum, den kleineren Kapitalisten möglichst wenig vom Profit abzugeben.
Das Autoland
Hinter den gelegentlichen Erdbeben im Konflikt zwischen Autokonzernen und Zulieferern stehen riesige, weltweite Verschiebungen in der Branche: In der Autoindustrie hat sich ein gewaltiger Konzentrationsprozess vollzogen, wenige, miteinander verflochtene und miteinander kämpfende Monopole kontrollieren den Weltmarkt. Und: Die Autoindustrie ist entscheidend für die deutsche Wirtschaft.
Die Autoindustrie und ihre Zulieferbetriebe nehmen im Branchenvergleich der deutschen Industrie Platz 1 ein. Im Jahr 2016 waren laut statistischem Bundesamt rund 1 300 Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigten in der deutschen Automobilindustrie tätig. Zu diesen Betrieben gehören die deutschen Hersteller, vor allem Daimler, BMW und VW. Diese stellen allerdings nur noch etwa ein Fünftel eines Fahrzeugs her. Die übrigen 80 Prozent der Wertschöpfung übernehmen die Zulieferer. Die Lieferketten, auch Supply Chain genannt, können über mehrere Stufen laufen. Als erste Reihe der Zulieferer („Tier 1“) bezeichnet man die Unternehmen, die größere Baugruppen und Systeme direkt an die Autokonzerne liefern. Typische Tier-1-Unternehmen sind Firmen wie ZF Friedrichshafen (Bremssysteme, Lenksysteme usw.), Adient (komplette Autositze mit allen Stellmotoren und Sitzheizungen) oder Hella (komplette Beleuchtungssysteme). Da in Fahrzeuge in wachsendem Umfang Elektrik, Elektronik und Software genutzt werden, gehören auch Firmen aus diesen Bereichen zu den Zulieferern. All diese Lieferanten haben selbst Unterlieferanten über teilweise mehrere Stufen hinweg: die zweite, dritte, … Reihe (Tier 2, Tier 3, …).
Im Jahresmittel 2017 waren 820200 Menschen in den Stammbelegschaften der Betriebe der Hersteller von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeugteilen in Deutschland beschäftigt, davon 305 200 Personen in den Stammbelegschaften der Zulieferbetriebe. Eng verbunden mit dem Automobilbau sind auch Firmen aus der IT-Industrie (Steuerung der Arbeitsabläufe in den Auto-Fabriken), dem Maschinen- und Anlagenbau (Fabrikausrüstungen), der Logistik (Transport der Zulieferteile und Versand der fertigen Fahrzeuge) sowie dem Autohandel, Ersatzteilgeschäft oder Service.
Rund 7,7 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung Deutschlands gehen direkt oder indirekt auf die Autoproduktion zurück. Mit einem Umsatz von 422,8 Mrd. Euro erreichte die Automobilindustrie 2017 ein neues Rekordniveau. Die Umsätze stiegen um gut 4 Prozent. Auch dies ist ein neuer Rekord. Diese Konzerne sind so groß, dass sie auf enge Verbindungen zur Regierung angewiesen sind. Der Verband der Automobilindustrie (VDA) nutzt seine Stärke für eine intensive Lobbyarbeit und rühmt sich seiner guten Beziehungen zur Politik.
Landnahme im Osten
Vor allem seit Anfang der 1990er Jahre hat sich in der Automobilindustrie ein Konzentrationsprozess vollzogen. Zu den Gründen vermerkt die industrienahe Beratungsgesellschaft KPMG: „Der wichtigste Treiber des Konsolidierungsprozesses in den 90er-Jahren war die zunehmende Globalisierung des Weltautomobilmarktes. Dabei spielten zwei politische Entwicklungen eine entscheidende Rolle: zum einen die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes zum 1. Januar 1993, durch den die noch bestehenden Handelsbeschränkungen in der Europäischen Union weitgehend beseitigt wurden. Zum anderen der Fall des Eisernen Vorhangs, wodurch zahlreiche neue Staaten Mittel- und Osteuropas in die Weltwirtschaft einbezogen wurden. Der Prozess der Globalisierung hatte eine nochmalige Verschärfung der Wettbewerbssituation auf dem europäischen Automobilmarkt zur Folge.“
Durch die Monopolisierung hat sich die Zahl der international aufgestellten Automobilhersteller in den letzten 30 Jahren von 32 auf 15 reduziert. Zu den Firmen, die von den verbliebenen Konzernen aus dem Markt gedrückt wurden, gehören nahezu alle Firmen, die in den europäischen sozialistischen Ländern Autos bauten. In Russland gibt es lediglich noch zwei Unternehmen. Der Absatz und die Beschäftigung dieser Firmen sind seither stark zurückgegangen. In den anderen ehemals sozialistischen Ländern, die einst Autos oder Zulieferteile herstellten, gibt es gar keine eigenständige Automobilindustrie mehr, wenn man von den reichlich vorhandenen Produktionsstätten von BMW, Daimler, VW und Peugeot-Citroen und einigen japanischen Unternehmen absieht.
Zuliefer-Monopole
Nicht nur unter den großen Autokonzernen hat sich das Kapital konzentriert, auch unter den Zulieferern – so stark, dass auch in dieser Gruppe einige Unternehmen in einem begrenzten, spezialisierten Markt die Macht eines Monopols ausspielen können. Schon 2010 rief die Unternehmensberatung von Rolf Berger die Zulieferindustrie zu weltweiten „Konsolidierungsmaßnahmen“ auf, damit die automobile Zulieferindustrie zurück in die Gewinnspur fahren kann. Und die großen Zulieferer der ersten Reihe, also diejenigen, die direkt mit der Autoindustrie in Verbindung stehen, tun dies. ZF Friedrichshafen (Platz 4 der Zulieferer) kaufte 2015 den Zulieferer TRW für rund 10 Mrd. Euro und 2016 den Hersteller von LKW-Bremsen Haldex für 462 Mio. Euro. Magna (Platz 5 der Zulieferer) schluckte 2015 den Getriebehersteller Getrag für 1,7 Mrd. Euro. An Geld fehlt es den Unternehmen in der Regel nicht. Zum Beispiel berichtete „Spiegel Online“ 2016: „Die Continental-Tochter Conti verfügt über ein Liquiditätspolster von 5,2 Milliarden Euro, davon 1,6 Milliarden an flüssigen Mitteln und 3,6 Milliarden an Kreditlinien. Damit sollen kleinere Spezialisten für die Digitalisierung des Autos gekauft werden.“
Nervös und unsicher
In kaum einer anderen Branche der deutschen Wirtschaft sind die Beschäftigten so nervös wie in der Autobranche. Sie fürchten zu Recht um ihre Arbeitsplätze und ihre derzeit noch hochqualifizierten und gut bezahlten Tätigkeiten. Der Umstieg vom Verbrennungsmotor auf den Elektroantrieb, das selbstfahrende Auto, der Wandel, der durch die Digitalisierung hervorgerufen wird – verschärft wird der Druck durch den Konzentrations- und Verdrängungswettbewerb zwischen den wenigen weltweit noch verbleibenden Autoherstellern. Hier ist der Kampf der Opelmitarbeiter ein aktuelles Beispiel.
Die Zulieferbetriebe geben den Druck, den die Konzerne ihnen machen, an ihre eigenen Belegschaften weiter. Umgekehrt sind die Autokonzerne davon abhängig, dass ihre hochkomplexe Lieferkette zuverlässig und genau auf den Zeitpunkt der Montage abgestimmt funktioniert. Die Prevent-Gruppe, ein VW-Zulieferer, versuchte 2016, diese Abhängigkeit zu seinen Gunsten auszuspielen: Er forderte höhere Preise und stoppte die Lieferung von Teilen für Motoren und Sitze, bei VW stand tagelang die Produktion des Golf still. 2018 schlug VW zurück und kündigte Lieferverträge mit Prevent-Betrieben – unter anderem mit Halberg Guss in Leipzig und Saarbrücken. Die Kollegen sollten entlassen werden und streikten. Halberg Guss hat gezeigt: Im Krieg der Konzerne werden die Beschäftigten zu Kollateralschäden – so lange, bis sie selbst aktiv werden.
Nervös sind nicht nur die Mitarbeiter in der Produktion, sondern mindestens ebenso die Ingenieure. Die Reduzierung der Fertigungstiefe und die damit verbundene Auslagerung von Wertschöpfung auf die Lieferanten-Kette laufen nicht nur in der Teile- und Komponentenfertigung. Zunehmend erfolgt dies auch in den Bereichen Entwicklung, IT, Logistik und Service. Damit werden die Arbeitsabläufe für Ingenieure, Informatiker und Organisationsspezialisten bei den Zulieferern in den „Workflow“ der Autokonzerne direkt einbezogen. „Diese arbeiten in direkter Weisung durch den auftraggebenden Automobilhersteller“, erklärt der VDA ganz offen. Der Konzernverband schätzt ein: „Durch diese Arbeitsteilung in Forschung und Entwicklung und deren fortwährende Optimierung lassen sich signifikante Innovationspotenziale und Effizienzsteigerungen schaffen. So entfallen heute etwa 8,8 Mrd. Euro beziehungsweise knapp 7 Prozent der weltweiten FuE-Wertschöpfung auf Entwicklungsdienstleistungen. Diese werden in Deutschland in Form von Werkverträgen, Dienstverträgen oder Arbeitnehmerüberlassung erbracht.“
Die Felder der Auslagerungen sind breit gestreut. Neben IT-Dienstleistungen, Kundenservice, Logistikaufgaben, Kantinen gehören auch Marketing, Werbung, Veranstaltungsorganisation dazu. Gerade für die letztgenannten läuft die Arbeit bei kleinsten Agenturen und Freelancern. Sie arbeiten ohne jegliche Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, bei Schwangerschaft (viele der Beschäftigten im oben genannten Bereich sind Frauen) oder im Urlaub.
Nur politisch
Die bedrohliche Situation wird sich für die Beschäftigten durch die Digitalisierung weiter verschärfen. Die IG Metall drängt darauf, beim Wandel der Autoindustrie die Interessen der Beschäftigten und Standorte im Blick zu behalten und dafür zu sorgen, „dass die Beschäftigten nicht unter die Räder kommen“. Sie verspricht, dass sie die Interessen der Belegschaften in diesem Prozess des Wandels unterstützt. Christiane Benner, zweite Vorsitzende der IG Metall fordert mit Blick auf die Digitalisierung in der Automobilindustrie: Qualifizierungsmaßnahmen, Schutz der Beschäftigtendaten, Schutz vor physischer und psychischer Belastung und die Beteiligung der Beschäftigten in jedem einzelnen Betrieb. Was in den gewerkschaftlichen Forderungen noch fehlt, ist eine überbetrieblich politische Strategie wie zum Beispiel die klare Forderungen nach einer höheren Besteuerung der Produktivitätsgewinne oder eine Verkürzung der Arbeitszeit, wenn ein Teil der Arbeit wegfällt – so wie dies im Kampf um die 35 -Stunden-Woche der Fall war.