Karl Liebknecht im Mai 1915: „Wie lange noch?“

Die falsche Hoffnung verscheuchen

„Der italienische Abklatsch der deutschen Ereignisse vom Sommer vorigen Jahres kann Denkenden kein Sporn zu neuem Kriegstaumel sein, nur ein neuer Anstoß zur Verscheuchung jener Hoffnungsirrwische von einer Morgenröte politischer und sozialer Gerechtigkeit, nur ein neues Licht zur Erhellung der politischen Verantwortlichkeiten, zur Enthüllung der ganzen Gemeingefährlichkeit jener österreichischen und deutschen Kriegstreiber, nur ein neuer Anklageakt gegen sie.

Lernen und nicht vergessen aber gilt es auch und vor allem, welch heldenmütigen Kampf unsere italienischen Genossen gegen den Krieg gekämpft haben und noch kämpfen. Kämpfen in der Presse, in Versammlungen, in Straßenkundgebungen, kämpfen mit revolutionärer Kraft und Kühnheit, trotzend mit Leib und Leben dem wütenden Anprall der obrigkeitlich aufgepeitschten nationalistischen Wogen. Ihrem Kampf gelten unsere begeisterten Glückwünsche. Lasst ihren Geist unser Vorbild sein! Sorgt, dass er das Vorbild der Internationale werde!

Wäre er es seit jenen Augusttagen gewesen, es stünde besser in der Welt. Es stünde besser um das internationale Proletariat.

Aber kein Zuspät kennt entschlossener Kampfeswille!

Abgewirtschaftet hat die unsinnige Parole des ‚Durchhaltens‘, die nur immer tiefer in den Malstrom der Völkerzerfleischung führt. Internationaler proletarischer Klassenkampf gegen internationale imperialistische Völkerzerfleischung heißt das sozialistische Gebot der Stunde.

Der Hauptfeind jedes Volkes steht in seinem eigenen Land!

Der Hauptfeind des deutschen Volkes steht in Deutschland: der deutsche Imperialismus, die deutsche Kriegspartei, die deutsche Geheimdiplomatie. Diesen Feind im eigenen Lande gilt‘s für das deutsche Volk zu bekämpfen, zu bekämpfen im politischen Kampf, zusammenwirkend mit dem Proletariat der anderen Länder, dessen Kampf gegen seine heimischen Imperialisten geht.

Wir wissen uns eins mit dem deutschen Volk – nichts gemein haben wir mit den deutschen Tirpitzen und Falkenhayns, mit der deutschen Regierung der politischen Unterdrückung, der sozialen Knechtung. Nichts für diese, alles für das deutsche Volk. Alles für das internationale Proletariat, um des deutschen Proletariats, um der getretenen Menschheit willen!

Die Feinde der Arbeiterklasse rechnen auf die Vergesslichkeit der Massen – sorgt, dass sie sich gründlich verrechnen! Sie spekulieren auf die Langmut der Massen – wir aber erheben den stürmischen Ruf:

Wie lange noch sollen die Glücksspieler des Imperialismus die Geduld des Volkes mißbrauchen? Genug und übergenug der Metzelei! Nieder mit den Kriegshetzern diesseits und jenseits der Grenze!

Ein Ende dem Völkermord!

Proletarier aller Länder, folgt dem heroischen Beispiel eurer italienischen Brüder! Vereinigt euch zum internationalen Klassenkampf gegen die Verschwörungen der Geheimdiplomatie, gegen den Imperialismus, gegen den Krieg, für einen Frieden im sozialistischen Geist.

Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“

Aus dem Flugblatt „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“, Mai 1915.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Die falsche Hoffnung verscheuchen", UZ vom 14. Dezember 2018



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Stern.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit