In der UZ vom 23. Dezember veröffentlichten wir eine Reihe von Glückwünschen und Hintergrundbeiträgen zum 100. Jahrestag der Gründung der Sowjetunion. Wir ergänzen sie an dieser Stelle um weitere Texte. Zunächst um den Geburtstagsgruß von Liane Kilinc, Vorsitzende des Vereins Friedensbrücke/Kriegsopferhilfe.
Wenn wir heute den hundertsten Jahrestag der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken begehen, fangen wir vielleicht gerade an, die wirkliche Bedeutung dieses historischen Moments zu begreifen. Denn das, was vor hundert Jahren beschlossen wurde, ist keineswegs verschwunden; wir können es als Fundament jener Veränderungen wiederfinden, die die Welt heute erschüttern.
Wie heißt es in der Deklaration über die Gründung? „Seit der Bildung der Sowjetrepubliken zerfielen die Staaten der Welt in zwei feindliche Lager: in das Lager des Kapitalismus und in das Lager des Sozialismus.“ Augenblicklich sehen wir wieder zwei Lager, das der imperialistischen Länder des Westens und das, das von manchen der „globale Süden“ genannt wird, eine Konstellation, die sich schon damals abzeichnete. Im letzten Aufsatz Lenins vom März 1923 „Lieber weniger, aber besser“ finden sich folgende Sätze: „Der Ausgang des Kampfes hängt in letzter Instanz davon ab, dass Rußland, Indien, China usw. die gigantische Mehrheit der Erdbevölkerung stellen. Gerade diese Mehrheit der Bevölkerung wird denn auch in den letzten Jahren mit ungewöhnlicher Schnelligkeit in den Kampf um ihre Befreiung hineingerissen, so dass es in diesem Sinne nicht den geringsten Zweifel darüber geben kann, wie die endgültige Entscheidung des Kampfes im Weltmaßstab ausfallen wird. In diesem Sinne ist der endgültige Sieg des Sozialismus vollständig und unbedingt gesichert.“
Ungewöhnliche Schnelligkeit? Auch diese Sätze sind fast hundert Jahre alt, und in der heutigen Auseinandersetzung wird mit kleinerer Münze gezahlt; die beiden Lager ringen um Bestehen oder Untergang des kolonialen Systems und nicht um den Sozialismus. Die letzten drei Jahrzehnte dieses Jahrhunderts wirkten eher wie eine Niederlage als wie ein Schritt zum Sieg. Und ich kann aus meiner Heimat berichten, dass die vielfältigen Organisationen der Arbeiterbewegung, die es einmal gab, in diesen letzten drei Jahrzehnten fast vollständig übernommen oder zerschlagen worden sind. Ich rede nicht nur von den kommunistischen Parteien, die, soweit sie noch bestehen, darum ringen müssen, nicht von der bürgerlichen Ideologie zerfressen zu werden; ich rede von Friedensorganisationen, Gewerkschaften, kulturellen Organisationen; wo immer sich Ansätze von Widerstand zeigen, gegen die weit vereinheitlichte Politik des NATO-Blocks, wird sofort reagiert, und das gilt schon bei Versuchen, reformistische Organisationen aufzubauen.
Das ist nicht nur in Deutschland so. Der Angriff auf die Lebensverhältnisse der Werktätigen erfolgt mit großer Geschwindigkeit und geht sehr tief, und die Gegenwehr erfolgt meist spontan oder umgeht auf jeden Fall den Kern dieses Angriffs, die Sanktionen, die die EU verhängt hat, und die nun über die Steigerung der Energiekosten die Reallöhne schneller abstürzen lassen, als dies in den letzten Jahrzehnten der Fall war.
Wenn das keine tiefe Niederlage ist, was dann? Die deutsche Arbeiterbewegung, die einmal weltweites Vorbild war und, mit Hilfe der Sowjetunion, immerhin vierzig Jahre lang an einem besseren Deutschland bauen konnte, ist nur noch der Schatten ihres Schattens.
„Dort“ heißt es in der Deklaration, „im Lager des Kapitalismus, herrschen nationale Feindseligkeiten und Ungleichheit, Chauvinismus, nationaler Haß und Pogrome, imperialistische Grausamkeit und Kriege.“
Die Union, die vor hundert Jahren geboren wurde, war als Staatenbündnis ein Gegenprogramm zum 1919 gegründeten Völkerbund, der in seiner Satzung klar als Bündnis der Kolonialherren zu erkennen war: „Die Entwicklungsstufe, auf der sich andere Völker, insbesondere die mittelafrikanischen befinden, erfordert, dass der Mandatar dort die Verwaltung des Gebiets übernimmt. (…) Verbürgt muss weiter sein das Verbot der Errichtung von Befestigungen oder von Heeres- oder Flottenstützpunkten, sowie das Verbot militärischer Ausbildung der Eingeborenen, soweit sie nicht lediglich polizeilichen oder Landesverteidigungszwecken dient.“
Die Staaten Lateinamerikas, die Mitglieder werden durften, waren nicht wirklich souverän, auch wenn die Oberhoheit Spaniens und Portugals Anfang des 19. Jahrhunderts endete. Brasilien beispielsweise musste, um als eigenständiger Staat anerkannt zu werden, die gesamten Schulden des Königreichs Portugal übernehmen. Dieser Völkerbund „ermangelt so ganz und gar dessen, was auch nur entfernt einer realen Herstellung der Gleichberechtigung der Nationen ähnelt, was reale Aussichten für ein friedliches Zusammenleben zwischen ihnen eröffnet,“ war damals Lenins Urteil.
Die EU ist ebenso kolonial wie der Völkerbund, daran haben die letzten hundert Jahre nichts geändert. Jede vermeintliche Hilfe kommt mit Gift und Widerhaken und hat vor allem das Ziel, das Land, in das sie fließt, möglichst eng zu fesseln. Die neueste Technik dabei nennt sich Klimaschutz; dabei wird einerseits die Entwicklung fossiler Rohstoffreserven, die Energieunabhängigkeit ermöglichen könnten, untersagt, und zum anderen der Kauf westlicher Technologie für „erneuerbare Energien“ aufgedrängt.
Im Inneren ist die EU nicht freundlicher als nach außen. Das, was die Vereinigten Staaten jetzt mit der EU veranstalten, eine Welle der Deindustrialisierung, das fand auch schon innerhalb der EU statt, nach der Finanzkrise von 2008, als die deutsche industrielle Produktion die einzige war, die den Stand vor 2008 wieder erreichte und übertraf – auf Kosten der Nachbarn, versteht sich.
Sie ist ein Staatenbündnis, das nicht den Interessen der Bevölkerungen dient; das belegt zum Beispiel die Dienstleistungsfreiheit, die dazu führt, dass in deutschen Wurstfabriken rumänische Leiharbeiter für rumänische Löhne arbeiten. Eine Regelung, unter der sowohl die deutschen als auch die rumänischen Beschäftigten leiden.
Ähnlich freundlich wird mit kleinen Gewerbetreibenden umgegangen, die mit hunderterlei Vorschriften aus dem Markt gedrängt werden. Eine engere Verschmelzung eines Apparats mit Konzernen als in der Brüsseler Bürokratie dürfte es noch nie gegeben haben. Korporatismus, fürwahr; weshalb es nicht wundern muss, dass der zweite Aufguss der nazistischen Ideologie dort so beliebt ist.
Wie es um die Souveränität der EU-Mitgliedsländer bestellt ist, ist wohl auch aus der Ferne sichtbar. Da wird gekauft, erpresst, auf alle nur denkbaren Arten genötigt, wenn es darum geht, dass ein Land auf Linie bleibt – sei es nun in Bezug auf LGBT, oder in Bezug auf die Politik gegen Russland. Es sind unzählige große und kleine Schritte, die demokratische Entscheidungsmöglichkeiten bis auf die unterste, die kommunale Ebene, zur Farce machen.
„Demokratie als Farce“ könnte über der gesamten EU stehen, spätestens seit die Bandera-Ideologie, die aus Deutschland Anfang der 1990er sofort in die Ukraine geliefert wurde, von dort wieder zurückkehrt und dem EU-Korporatismus ein wiedererkennbares Gesicht verleiht. Während die demokratischen Rechte der bürgerlichen Demokratie entschwinden, wird mit der Propaganda gegen Russland und auch China ein Menschenbild vermittelt, im dem der geopolitische Gegner notwendigerweise zum Untermenschen wird.
Über all das ergießt sich ein endloses Gerede von „Werten“, das über die Machtkämpfe untereinander ebenso hinwegtäuschen soll wie über den Preis, den die Bevölkerungen dafür zahlen, wie über die vollständige Unterwerfung unter die US-Politik im Interesse des Rentensektors. Keine Gleichberechtigung der Nationen, und schon gar kein Beitrag zum friedlichen Zusammenleben der Völker.
Was hat das alles mit dem Jahrestag der Gründung der Sowjetunion zu tun? Sehr viel. Das Völkerrecht und die Diplomatie entwickeln sich nicht losgelöst von den Gesellschaften; das ist gerade heute unübersehbar, da der Westen nicht mehr im Stande ist, sich an die Gebräuche und das Recht zu halten, die sich seit dem Westfälischen Frieden 1648 entwickelten. Er kann es nicht mehr, weil sein ökonomischer Handlungsspielraum zu gering ist. Das gilt nach innen, wo das kleinste Zugeständnis an die Arbeiterklasse unmöglich ist und die Sozialsysteme zerstört werden müssen, wie nach außen.
Die Bereitschaft, sogar das Handelsrecht zu brechen, das die juristische Grundlage des Wirtschaftssystems selbst ist, ist, auch wenn die Handelnden sich dessen womöglich nicht bewusst sind (man nehme eine Annalena Baerbock als Beispiel), ein Zeichen, wie bedrohlich die wirtschaftliche Lage ist.
Daran ändert nichts, dass mit Hilfe massiver Spekulation und von Zinserhöhungen versucht wird, in den Ländern des Südens eine Staatsschuldenkrise auszulösen, um das koloniale System noch einmal ähnlich zu stabilisieren, wie das zu Beginn der 1980er gelang. Die Voraussetzungen sind völlig andere.
Und die Geburt dieser anderen Voraussetzungen fällt auf den gleichen Tag wie die Gründung der Sowjetunion. Auch wenn es die Union selbst nicht mehr gibt, die Wegstrecke, die sie für die Entwicklung der Menschheit zurückgelegt hat, war so gigantisch, dass ein Bruchstück ihres Erbes heute genügt, die Welt zu verändern.
Es war der Sieg der Sowjetunion über Hitlerdeutschland, der die Tür für die erste Welle der Souveränität in Afrika und Asien öffnete. Aber diese erste Welle konnte wieder eingefangen werden; mit Hilfe von Internationalem Währungsfonds, der Weltbank und dem Sturz einer ganzen Reihe zu souveräner Regierungen wurde die koloniale Welt wieder in Ordnung gebracht. Das Ende der Sowjetunion brachte dann die Fantasien hervor, dass nun die koloniale Herrschaft unendlich sei.
Aber jetzt zeigt sich, wie endlich sie ist. Das ist ein Sieg, den abermals die Sowjetunion erringt. Denn dass es heute nicht nur einen abstrakten Wunsch gibt, Länder, Nationen mögen sich als Gleiche begegnen und nicht als Herren und Knechte, sondern dass es Erfahrungen gibt, wie dies praktisch realisiert werden kann; dass sich dieser Wunsch in Bündnissen formieren kann und heute die gigantische Mehrheit der Erdbevölkerung, von der Lenin sprach, tatsächlich um ihre Befreiung kämpft, um das endgültige Ende einer kolonialen Ökonomie – selbst wenn dieser Kampf nicht identisch mit einem Sieg des Sozialismus ist – das wäre nicht möglich ohne diesen Tag vor hundert Jahren, ohne diese Deklaration, die das Ziel festlegte und den Weg vorgab: „gegenseitiges Vertrauen und Friede, nationale Freiheit und Gleichheit, friedliches Zusammenleben und brüderliches Zusammenarbeiten der Völker.“