Am 19. September 1941 hatte die deutsche Armeegruppe Süd mit 34 Divisionen und 544.000 Mann gegen harten Widerstand der Roten Armee und der Kiewer Bevölkerung die Stadt Kiew weitgehend erobert. Die Widerstandsaktionen dauerten noch an. Die Südwestfront der Roten Armee war allerdings in einen Kessel geraten. Die Rückzugsbefehle kamen zu spät. Die Rote Armee verlor nahezu eine Dreiviertelmillion Mann. Damit war die Bevölkerung der Stadt Kiew den Faschisten schutzlos ausgeliefert. Die Menschen in Kiew mussten nun erleben, was faschistischer Vernichtungskrieg in der Realität bedeutete.
Nur Tage später plakatierte die faschistische Stadtkommandantur, verantwortlich Generalmajor und SS-General Kurt Eberhard, folgenden Text auf Deutsch, Ukrainisch und Russisch:
„Sämtliche Juden der Stadt Kiew und Umgebung haben sich am Montag, dem 29. September, bis 8 Uhr Ecke der Melnykowa-/Doktoriwski-Straße einzufinden. Mitzunehmen sind Dokumente, Geld und Wertsachen sowie warme Bekleidung, Wäsche usw. Wer dieser Aufforderung nicht nachkommt und anderweitig angetroffen wird, wird erschossen. Wer in verlassene Wohnungen von Juden eindringt oder sich Gegenstände daraus aneignet, wird erschossen.“
Der Pogrom
Über 30.000 Menschen waren in der Erwartung einer Umsiedlung der erpresserischen Aufforderung Eberhards gefolgt. Es waren vor allem die Armen, Alten und Schwachen, die Frauen und Kinder. Die Jungen und Starken waren bei der Armee oder mit der Rüstungsproduktion in den Osten verlegt worden. Sie wurden in die Schlucht getrieben. Straßensperren verhinderten, dass sie zurückflüchten konnten. In der Schlucht angelangt, mussten sie unter den Schlägen der ukrainischen Hilfspolizisten ihre Habseligkeiten abgeben und sich ausziehen. Sie wurden dann zu Zehnergruppen zusammengestellt und mussten dann, Gruppe für Gruppe, durch ein enges Spalier von Antreibern laufen, die mit Stöcken und Knüppeln auf sie einschlugen und, wenn sie stürzten, ihre Hunde auf sie losließen. Wenn sie dann, zum Teil blutüberströmt, den vorbereiteten Vorsprung hoch über einer riesigen Grube erreicht hatten, wurden sie mit Maschinenpistolen und -gewehren erschossen und fielen in die Grube. Teilweise mussten sie sich schichtweise auf die schon Erschossenen legen. Von Zeit zu Zeit sprangen einige der Mörder auf die Ermordeten in der Grube, um die, die noch überlebt hatten, per Genickschuss zu töten. Nachdem der Pogrom zu Ende war, wurden die Leichen mit einer dicken Schicht Erde abgedeckt. Die „Ereignismeldung“ der Einsatzgruppe C konnte stolz die Ermordung von 33.771 Juden nach Berlin rapportieren und über „ein ganz ausgezeichnetes Einvernehmen“ zu „sämtlichen Wehrdienststellen“ der 6. Armee berichten.
Die „saubere“ Wehrmacht sorgte für die weiträumige Absicherung und die logistische Sicherstellung des Massakers. Pioniere sorgten mit Sprengungen für die Spurenbeseitigung. Ohne das Zusammenwirken der „regulären“ Armee mit den Todeskommandos der Polizei, der SS und des SD wären der Massenmord an Millionen Menschen, wie er von Anfang an im Kontext des Überfalls auf die Sowjetunion geplant war, gar nicht durchführbar gewesen. So endete das Morden im Babij Jar auch nicht am 30. September 1941 und es beschränkte sich auch nicht auf die als Juden stigmatisierte Bevölkerung. Sowjetische Kriegsgefangene, Kommissare, Partisanen, Widerstandskämpfer, Kommunisten, Gefangene des 1942 in unmittelbarer Nähe gebauten Syrez-Konzentrationslagers, Patienten des psychiatrischen Krankenhauses „Iwan Pawlow“, Roma, Kiewer Bürger, Zivilisten unterschiedlicher Nationalität wurden im Babij Jar umgebracht. Die überlieferten Schätzungen schwanken stark. Es wird angenommen, dass hier etwa 100.000 bis 200.000 Menschen ermordet wurden, bis die Rote Armee im November 1943 die Stadt wieder zurückerkämpfen konnte. Aber selbst da noch versuchten die fliehenden deutschen Truppen alle in der Stadt lebenden Menschen vor sich her aus der Stadt zu treiben. Das Babij-Jar-Massaker war nicht der einzige Massenmord dieser Art. In Polen beispielsweise waren bei der „Aktion Erntefest“ über 40.000 Menschen ermordet worden. In Odessa waren es sogar über 50.000.
Eine Überlebende
Die junge Dina Pronitschewa, eine Künstlerin am Kiewer Puppentheater, war eine der Wenigen, die das Massaker des 29. und 30. September 1941 überlebt hatten. Sie hatte sich, ohne getroffen zu sein, in die Grube fallen lassen und dann totgestellt. Sie hatte es auch fertiggebracht, unter den Stiefeln des die Erschossenen kontrollierenden Soldaten ohne Reaktion zu bleiben. Schließlich war es ihr geglückt, sich aus der Erde freizubuddeln und in einer gefährlichen Odyssee in Sicherheit zu gelangen. Frau Pronitschewa schilderte später die Vorgänge beim Kiewer Kriegsverbrecherprozess am 24. Januar 1946:
„Sie mussten sich bäuchlings auf die Leichen der Ermordeten legen und auf die Schüsse warten, die von oben kamen. Dann kam die nächste Gruppe. 36 Stunden lang kamen Juden und starben. Vielleicht waren die Menschen im Sterben und im Tod gleich, aber jeder war anders bis zum letzten Moment, jeder hatte andere Gedanken und Vorahnungen, bis alles klar war, und dann wurde alles schwarz. Manche Menschen starben mit dem Gedanken an andere, wie die Mutter der schönen fünfzehnjährigen Sara, die bat, gemeinsam mit ihrer Tochter erschossen zu werden. Hier war selbst zum Schluss noch eine Sorge: Wenn sie sah, wie ihre Tochter erschossen wurde, würde sie nicht mehr sehen, wie sie vergewaltigt wurde. Eine nackte Mutter verbrachte ihre letzten Augenblicke damit, ihrem Säugling die Brust zu geben. Als das Baby lebendig in die Schlucht geworfen wurde, sprang sie hinterher.“
Die Mörder
Am 27. September 1941 hatte sich Stadtkommandant Eberhard mit SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln (General der Waffen-SS), SS- und Polizei-General Otto Rasch, SS-Standartenführer und späterer SS-General Paul Blobel darauf verständigt, die Kiewer Juden in einer groß angelegten Aktion zu ermorden. Der Massenmord war von der Wehrmachtsspitze abgesegnet und sogar forciert worden. Von Generalfeldmarschall Walter von Reichenau ist die Meldung erhalten: „Wehrmacht begrüßt Maßnahmen und erbittet radikales Vorgehen.“ Reichenau hatte sich schon früh als Vorkämpfer der „Neuen Macht“ erwiesen:
„Das wesentlichste Ziel des Feldzuges gegen das jüdisch-bolschewistische System ist die völlige Zerschlagung der Machtmittel und die Ausrottung des asiatischen Einflusses im europäischen Kulturkreis. Hierdurch entstehen auch für die Truppe Aufgaben, die über das hergebrachte, einseitige Soldatentum hinausgehen“, schrieb er am 10. Oktober 1941.
Auch die anderen Mörder in Uniform hatten einschlägige Erfahrungen und eine entsprechende Gesinnung. Jeckeln hatte schon Morderfahrungen in der Weimarer Republik, bei der Organisation der „Reichskristallnacht“ und während des Frankreich-Feldzuges. Er war zu Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion zum Höheren SS- und Polizeiführer, „HSSPF Russland-Süd“, ernannt worden und an zahlreichen Massenmord-Aktionen führend beteiligt. Rasch hatte sich bei den Massenmorden gegen die polnische Intelligenz „bewährt“ und kommandierte in der UdSSR die „Einsatzgruppe C“. Blobel, ebenso ein engagierter Vorkämpfer der faschistischen Massenmorde von Anfang an, befehligte das „Sonderkommando 4a“ der „Einsatzgruppe C“. Die Einsatzgruppen organisierten – mit Unterstützung der regulären Wehrmacht – die Terrorisierung und Ermordung großer Teile der Zivilbevölkerung in der UdSSR. Neben dem bürokratisch organisierten „Hungerplan“, der den Hungertod von bis zu 30 Millionen Sowjetbürgern vorsah und dem tatsächlich rund sieben Million Menschen zum Opfer fielen, und der Ermordung von über drei Millionen russischen Kriegsgefangenen waren es die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, die den Krieg zum Vernichtungs- und „Ausrottungs“-Krieg machten. In der Sowjetunion waren entlang der drei Heeresgruppen Nord, Mitte, Süd, zunächst drei, später vier Einsatzguppen, A, B, C und D, mit zusammen etwa 3.000 Mann gebildet worden. Ihr oberster Chef, Heinrich Himmler, hatte ihnen im Juni 1941 die klare Weisung erteilt:
„Wenn auch alle zu treffenden Maßnahmen schließlich auf das Endziel (die wirtschaftliche Befriedung des eroberten Ostraumes), auf welchem das Schwergewicht zu liegen hat, abzustellen sind, so sind sie doch im Hinblick auf die jahrzehntelange anhaltende bolschewistische Gestaltung des Landes mit rücksichtsloser Schärfe auf umfassendstem Gebiet durchzuführen.“
Folgende Personen seien sofort zu exekutieren:
- alle Funktionäre der Komintern (wie überhaupt die kommunistischen Berufspolitiker schlechthin)
- die höheren, mittleren und radikalen unteren Funktionäre der Partei, der Zentralkomitees, der Gau- und Gebietskomitees
- Volkskommissare
- Juden in Partei- und Staatsstellungen
- sonstige radikale Elemente (Saboteure, Propagandeure, Heckenschützen, Attentäter, Hetzer usw.)
Auch Himmler sieht hier die Prioritäten klar auf der ökonomischen und sicherheitspolitischen Ebene. Die genauen Opferzahlen der Einsatzgruppen sind unbekannt. Nach Schätzungen (Raul Hilberg) waren es mehr als zwei Millionen, wobei die Zahl der als Juden bezeichneten Menschen bei etwa 50 bis 60 Prozent liegt. Die millionenfachen Massenmorde entsprangen nicht nur rassistischen Wahnvorstellungen. Das gab es auch. Aber sie waren zuerst und vor allem integraler Bestandteil der geostrategischen Weltmachtstrategie des deutschen Imperialismus, der mit dem Unternehmen Barbarossa, nach dem Scheitern des ersten Versuchs von 1914 bis 1918, endlich verwirklicht werden sollte. Der Faschismus, mit dieser Aufgabe beauftragt, konnte das erforderliche Spitzenpersonal aus Räubern, Vergewaltigern, Folterknechten und Massenmördern locker hervorbringen. Sie alle hatten, wie von Reichenau gefordert, das „hergebrachte, einseitige Soldatentum“ längst hinter sich gelassen und sich mit so etwas wie Leidenschaft der „Ausrottung“ verschrieben. Das „Unternehmen Barbarossa“ war so etwas wie die Generalermächtigung für Brutalität und Barbareien aller Art. Der Faschismus hatte jegliche humanistische Bindung aufgekündigt.
Heinrich Himmler hatte die Mörder in seinen Posener Reden in einer Art nietzscheanischen „Umwertung aller Werte“ zu Helden geadelt:
„Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. ‚Das jüdische Volk wird ausgerottet‘, sagt ein jeder Parteigenosse. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1.000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.“
Die Verschleierung
Im Frühjahr 1942, nach dem Scheitern des Sturms auf Moskau (Unternehmen Taifun) konnten sich die führenden Kräfte des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) nicht mehr sicher sein, dass ihre Verbrechen unentdeckt bleiben würden. Wie gewöhnliche Verbrecher versuchte nun auch das RSHA seine Spuren zu beseitigen. Im Mai 1942 begann daher – parallel zu den weiteren Morden – die „Sonderaktion 1005“. Verantwortlich waren Kommandos des SD und der Ordnungspolizei. Sie ließen die Leichen der Ermordeten von mehreren Hundert KZ-Häftlingen oder Kriegsgefangenen unter unmenschlichen Bedingungen wieder ausgraben. Teilweise verwendete man auch Bagger, und schichtete die Leichen auf einem Rost aus Eisenbahnschienen wechselweise mit Brennholz zu riesigen Scheiterhaufen. Dann mussten die „Leichenkommandos“ (offizieller Jargon) alles mit Benzin und Petroleum übergießen und die Scheiterhaufen anzünden. Die einzelnen Feuer brannten manchmal mehrere Tage. Die unverbrannt gebliebenen Knochen wurden in speziell gefertigten Knochenmühlen zermahlen, die Asche schließlich auf den Feldern verstreut. Wenn alles verbrannt und verstreut war, mussten diese Häftlingskommandos ihren eigenen Scheiterhaufen errichten, wurden erschossen und ebenfalls verbrannt. In Babij Jar gelang es allerdings 15 dieser Häftlinge, bei einem Ausbruchsversuch zu entkommen. Alle übrigen wurden dabei erschossen.
Als einen Akt der Verschleierung kann auch die diesjährige Babij-Jar-Gedenkfeier in Korjukiwka bei Kiew begriffen werden. Der Berliner Mann für Schmalzlawinen und der Kiewer Kriegstrommler und Frontmann der faschistischen und neofaschistischen Rassisten und Russlandhasser, Frank-Walter Steinmeier und Wladimir Selensky, Hand in Hand bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des Faschismus. Also der barbarischen Politik genau jener Klassen und Schichten, deren Repräsentanten sie heute sind. Eher ein Treffen der Täter. Da kommt man an Max Liebermann nicht vorbei: „Ick kann janich so viel fressen, wie ick kotzen möchte!“