Die traditionelle „Alternative Einheitsfeier“ des Ostdeutschen Kuratoriums von Verbänden (OKV) kann in diesem Jahr nicht wie gewohnt stattfinden. Stattdessen werden die Beiträge der Tagung veröffentlicht: „Der Verrat an den Bürgern der DDR – Eine politische Bilanz nach 30 Jahren Anschluss.“ Wir bringen Auszüge aus dem Text, den Egon Krenz beigesteuert hat.
Wer sich heutzutage gegen Hasskommentare in den sozialen Medien stark macht, kann – wenn er es ehrlich meint – nicht daran vorbeigehen, dass nicht nur mediale Urteile über die DDR seit Jahrzehnten in erheblichem Maße Hasskommentare sind. Der absurde Vorwurf, den der damalige „Ostbeauftragte“ der Bundesregierung vor einem Jahr erhob, DDR-Bürger hätten vierzig Jahre auf der „falschen Seite der Geschichte gestanden“, zeigt die Arroganz der Mächtigen. Wer, bitteschön, bestimmt, wo die richtige Seite war? Dieser Mann war 1989 gerade einmal 13 Jahre alt.
Frau Merkel aber will laut eigener Bekundungen zum Einheitsjubiläum nur jenen Respekt entgegenbringen, die „Opfer des SED-Regimes“ waren und die gegen das Regime gekämpft hätten. Damit entwertet sie auch ihr eigenes Leben. Ohne ihre exzellente Ausbildung in der DDR hätte sie wohl kaum die intellektuelle Qualifikation gehabt, Regierungschefin der Bundesrepublik zu sein.
Den Regierenden ist offensichtlich bis in unsere Tage hinein entgangen: DDR-Bürger hatten nicht nur die Trümmer des Zweiten Weltkrieges beseitigt, Städte und Dörfer wieder bewohnbar gemacht, wertvolle kulturhistorische Bauten wieder errichtet, sondern auch zahlreiche neue Betriebe, Straßen, Stadtteile und Städte mit modernen Wohnungen, Schulen, Kinderkrippen und Kindergärten, Ambulatorien, Krankenhäusern, Sport- und Kulturstätten geschaffen. Nicht zu vergessen, dass jene historischen Gebäude, in denen sich die heute Regierenden selbst feiern, von der DDR wiederaufgebaut wurden: Das Schauspielhaus Berlin, die Semperoper Dresden, das Gewandhaus Leipzig und vieles mehr. Es gab 1945 nichts, aber auch gar nichts, was die SED hätte runterwirtschaften können, wie ihre Gegner behaupten.
Der Dachdecker bei Krupp
Ich erinnere mich an den Besuch von Erich Honecker 1987 in der Krupp-Villa Hügel in Essen. 300 Vertreter der Großindustrie und der mittelständischen Wirtschaft buhlten um seine Gunst. Sie alle waren sachkundige Kenner der DDR-Wirtschaft. Sie trafen sich doch nicht mit dem DDR-Staatsoberhaupt, weil sie eine „marode Wirtschaft“ unterstützen wollen. Sie witterten gute Geschäfte.
Längst geht es hier nicht nur um die Vergangenheit. Es geht vor allem um das offenbar tief verwurzelte antikapitalistische Potential, das im Osten Deutschlands immer noch lebendig ist. In jeder Haushaltsdebatte des Bundestages wird das angeblich marode „DDR-Erbe“ bemüht, wenn man die eigenen Systemschwächen bagatellisiert.
Man beruft sich immer wieder auf ein inzwischen vergilbtes und schon bei seiner Behandlung im Politbüro am 30. Oktober 1989 überholtes Papier, nennt es unzutreffend „Schürer-Papier“, der in seinem Buch „Gewagt und verloren“ schon 1996 die westdeutsche Interpretation der 1989 unrichtigen Zahlen zurückgewiesen hat. Es ist schwer zu verstehen, dass sie ihrem eigenen Geldinstitut, der Deutschen Bundesbank, misstrauen. Es gibt einen Bericht von ihr unter dem Titel „Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989“. Darin heißt es, Ende 1989 betrug „die Nettoverschuldung der DDR 19,9 Milliarden Valutamark“ umgerechnet in Euro nicht einmal zehn Milliarden. Wegen einer solchen Summe geht kein Staat bankrott.
Indem man aber behauptet, die DDR sei bankrott gewesen, kann man verdecken, dass sich der wirkliche Kollaps der DDR-Industrie erst nach dem Anschluss der DDR an die BRD ereignete: Nach dem 1. Weltkrieg wurde gegenüber dem Vorkriegsstand von 1913 noch 57 Prozent produziert. Nach dem 2. Weltkrieg 1946 im Verhältnis zum Vorkriegsstand von 1938 immerhin noch 42 Prozent. 1992, auf dem Höhepunkt der Privatisierung des Volkseigentums, gegenüber dem vorletzten Jahr der DDR nur noch 31 Prozent.
Die Krupps entledigen sich der Konkurrenz
Das tatsächliche Problem war 1990 nicht eine vermeintlich marode Wirtschaft der DDR. Der Kern war ein ganz anderer: Vieles in der Wirtschaft gab es zweimal in Deutschland. Einmal musste sterben. Nicht nur, was eventuell marode war, sondern auch das Moderne. Das Sterben hat die Treuhand organisiert, aber nicht aus eigenem Antrieb. Es war politisch so gewollt. Das Volkseigentum der DDR wurde verscherbelt. 85 Prozent davon erhielten Eigentümer aus dem Westen, 10 Prozent gingen ins Ausland und knappe 5 Prozent blieben im Osten.
Die DDR hinterließ der Bundesrepublik keine Erblast in Höhe von 400 Milliarden DM – wie behauptet wird –, sondern ein Volksvermögen von 1,74 Billionen Mark an Grundmitteln und 1,25 Billionen Mark im produktiven Bereich – ohne den Wert des Bodens und den Besitz von Immobilien im Ausland gerechnet.
Das soll natürlich nicht heißen, dass wir keine Schwierigkeiten in der Wirtschaft gehabt hätten. Sie waren auch nicht lapidar. Aber die Totalkritiker der DDR begreifen nicht, dass die DDR-Gesellschaft bei allen Schwächen, die ihr leider auch anhafteten, ihre eigenen lebenswerten Ideale und Werte hatte, die in Jahrzehnten gewachsen waren. Nicht der Ellenbogen, sondern das Bemühen um kameradschaftliche Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe in den Arbeitskollektiven bestimmte den Alltag.
Unikat ist ein treffendes Wort für das, was die DDR war. Sie war nach der Wiederbelebung kapitalistischer Verhältnisse in Westdeutschland und dem Aufstehen alter Nazis die einzig vernünftige Alternative zu einem Deutschland, das für zwei Weltkriege und die grausame faschistische Diktatur verantwortlich war.
Als in den Nachkriegsjahren im Westen wieder alte Nazis Lehrer, Juristen oder Beamte sein durften, fand im Osten eine antifaschistisch-demokratische Umwälzung statt. 7.136 Großgrundbesitzer und 4.142 Nazi- und Kriegsverbrecher wurden entschädigungslos enteignet. 520.000 ehemalige Nazis wurden aus öffentlichen Ämtern entfernt. Am 30. Juni 1946 stimmten mehr als 72 Prozent der Bürger Sachsens in einem Volksentscheid für die Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher. In Ostdeutschland kam Junkerland tatsächlich in Bauernhand; kein Nazi durfte Lehrer sein. In Schnellverfahren wurden 43.000 Frauen und Männer zu Neulehrern ausgebildet, die zwar manchmal – wie es damals hieß – nicht genau wussten, ob man Blume mit oder ohne „h“ schreibt – dafür aber Mut hatten, dem Ruf eines FDJ-Liedes zu folgen: „Um uns selber müssen wir uns selber kümmern, und heraus gegen uns, wer sich traut.“ Nazis durften kein Recht sprechen, Volksrichter wurden gewählt, Fakultäten entstanden, die dafür sorgten, dass Arbeiter und Bauern auf die Hochschulen kamen.
Ein Land ohne Krupps
„Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“ kam 1945 nicht als Weckruf aus den Westzonen, im Gegenteil, es verhallte dort im Makel einer unbewältigten Aufarbeitung des Hitlerfaschismus. Zu uns drang dieser Appell aus Buchenwald und wurde eine Maxime für das Leben: „Die Vernichtung des Nazismus mit all seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens ist unser Ziel.“ Dieser Schwur von Buchenwald war das Fundament, auf dem die Deutsche Demokratische Republik am 7. Oktober 1949 gegründet wurde.
Von ihrer Gründung erfuhr ich als 12-Jähriger. Noch nicht am 7. Oktober 1949, erst einige Tage später. Eigentlich durch Stalin. Mein Klassenlehrer verlas ein Telegramm von ihm, gerichtet an Präsident Wilhelm Pieck, von Beruf Tischler, und Ministerpräsident Otto Grotewohl, gelernter Buchdrucker. Zweierlei habe ich mir damals eingeprägt und bis heute nicht vergessen: An der Spitze des neuen Staates standen Arbeiter, die gegen Hitler gekämpft hatten. Antifaschistische Widerstandskämpfer. Ein epochaler Unterschied zu der einige Monate zuvor gegründeten Bundesrepublik, deren Präsident 1933 im Deutschen Reichstag dem Ermächtigungsgesetz der Nazis zugestimmt hatte.
Im Telegramm des sowjetischen Repräsentanten stand ein Gedanke, der mich stark geprägt hat und historischen Bestand hat – bis heute: „Die Gründung der Deutschen Demokratischen friedliebenden Republik“, heißt es dort, „ist ein Wendepunkt in der Geschichte Europas. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Existenz eines friedliebenden demokratischen Deutschland neben dem Bestehen der friedliebenden Sowjetunion die Möglichkeit neuer Kriege in Europa ausschließt, dem Blutvergießen in Europa ein Ende macht und die Knechtung der europäischen Länder durch die Weltimperialisten unmöglich macht.“
Wie damals formuliert wurde, genauso ist es gekommen. Solange die UdSSR und an ihrer Seite die DDR bestanden, gab es in Europa keinen Krieg. Das Verschwinden beider Staaten aus der Geschichte ist wiederum ein europäischer Wendepunkt. Kriege wurden nach 1990 wieder möglich. Sogar mit deutscher Beteiligung.
Und der Zukunft zugewandt …
Je weiter wir uns zeitlich vom Ende der DDR entfernen, um so märchen- und boshafter werden die offiziellen Ausfälle gegen sie. Die Kraft, das Geld und die Ressourcen, die man einsetzt, um die DDR zu denunzieren – eine ganze „Aufarbeitungsindustrie“ ist damit beschäftigt – wären sinnvoller angelegt für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus und Fremdenhass. Nazis, Neonazis und die geistigen Brandstifter in der AfD sind eine Gefahr für Deutschland – nicht aber das Erbe der DDR. In der DDR-Verfassung hieß es übrigens: „Militärische und revanchistische Propaganda in jeder Form von Kriegshetze und Bekundung von Glaubens-, Rassen- und Völkerhass werden als Verbrechen geahndet.“
Der erste Anlauf für eine ausbeutungsfreie Gesellschaft, die Pariser Kommune, überdauerte 72 Tage, der zweite Anlauf, die Oktoberrevolution, hielt 72 Jahre. Die Weltgeschichte wird einen neuen Anlauf haben. Wann und wie – das weiß heute niemand. Ein Blick nach China macht mir dennoch Hoffnung. China hat geschafft, innerhalb kurzer Zeit ein Volk von 1,4 Milliarden Menschen aus der Armut zu heben und für alle einen bescheidenen Wohlstand in Aussicht zu stellen. Nicht trotz, wie seine Gegner sagen, sondern wegen der Kommunistischen Partei des Landes, die ein klares Zukunftsprogramm hat.
Die politische und wirtschaftliche Stärke Chinas ist für die kapitalistischen Mächte eine ungeheure Herausforderung. Sie schätzen den riesigen Markt, aber sie fürchten die reale Alternative zum zügellos gewordenen kapitalistischen System. Deshalb wird sie Corona auch nicht veranlassen, das Wettrüsten einzustellen und die dann frei werdenden Ressourcen in die Kräftigung der Humanität zu investieren.
Einige Politiker im Westen reden gern davon, dass sich die Welt in einem Krieg gegen das Virus befände. Das ist eine falsche Metapher. Kriege sind Menschenwerk und können durch Menschen verhindert oder beendet werden. Das neue Virus hingegen belehrt uns auf drastische Weise, dass die Herrschaft der Menschheit über die Natur noch ihre Grenzen findet. Bis man sie irgendwann überschreitet, kann das gesellschaftliche Leben auf der ganzen Welt zum Stillstand gebracht sein. Die Bewältigung dieser wie aller Menschheitskrisen unterscheidet sich – jenseits aller kapitalistischen Nebelkerzen – im sozialen Gehalt der gesellschaftlichen Antworten.
Wenn Corona beherrscht ist, werden weltweit Fragen bleiben. Wie wollen wir in Zukunft leben? Wie kann die Ellenbogengesellschaft durch eine solidarische ersetzt werden? Wie kann die Logik der Ausbeutergesellschaft, dass der Mensch des Menschen Wolf ist, durch die Aufrichtung sozialer Humanität ersetzt werden? Ein gutes Thema für alle, denen Rosa Luxemburg unter Berufung auf Friedrich Engels schon vor einem Jahrhundert ins Stammbuch schrieb: „Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma, entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei“.