Juan S. Guse
Miami Punk
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2019
640 Seiten, 26 Euro
(eBook: 22,99 Euro)
Ein beliebtes Rezept zum Verfassen von Science Fiction ist vergleichsweise so simpel wie das zum Kochen eines Eis: Ändere genau eine Sache in der Realität und schau, was dann mit der Welt passiert. Juan S. Guse hat seinen zweiten Roman, „Miami Punk“, genau nach diesem Rezept geschrieben. Nur hat er sich gleich mehrmals bedient und kocht alle Eier in einem Topf, vom Wachtel- bis zum Straußenei. Und jedes einzelne – das sei jetzt schon verraten – gelingt ihm.
Vor der Küste Miamis verschwindet der Atlantik, die Stadt verfällt und wird zu einem zweiten Seattle mit „Wüstenwache“ statt der Küstenwache. Im fiktiven Rowdy-Yates-Komplex, einem überdimensionierten Wohnkomplex – mit dem Wohnort des 29-jährigen Guse, Hannover, kriegt man das gescheiterte, real-fiktive „Stadt-in-der-Stadt“-Projekt Ihme-Zentrum nicht aus dem Kopf – trifft sich ein progressiv-esoterischer Kongress, dessen autorisierte Gegenspielerin, die Behörde 55, die einzelne Gruppen, darunter die militante „Miami Punk“, beobachtet. Passend dazu findet parallel das wohl letzte internationale Counter-Strike-Turnier der alten 1.6-Version statt. Wie bei den mehr oder weniger irren Kongress-Fundamentalisten und den überforderten Staatsinstitutionen besteht das Spiel darin, dass man abwechselnd in die Rolle der Terroristen und der Anti-Terroristen schlüpft.
Juan S. Guse hat einen durchdachten, dennoch nicht konstruiert oder aufgebauscht wirkenden Roman geschrieben, der das Thema Utopie verhandelt. Seit es Arno Schmidt nicht mehr gibt, ist das in deutscher Sprache nicht häufig.
Das Verschwinden von Meer und Strand, damit auch das von der Staatsgrenze, von Arbeitsplätzen und Life, das Aufkommen einer allgemeinen Lethargie und einer verorteten Gegenkultur, die widersprüchlich ist wie Schmidts „Gelehrtenrepublik“ – dem Rowdy-Yates-Komplex: Guse zeichnet nichts in unterkomplexen, schwarz-weiß-didaktischen Bildern, die die möglichen Verhältnisse in die wahlweise beste oder schlechteste aller möglichen Welten verkehrt. Dem krassen Wandel der Welt entspringen in „Miami Punk“ faschistische Mörderbanden, die sich bei der Bevölkerung dadurch anbiedern, dass sie in Triebtäterkolonien Massaker veranstalten. In der neu entstandenen Wüste zwischen dem nordamerikanischen Festland und den Bahamas gründen sich währenddessen Siedlungen, die versuchen, sich voreilig unabhängig zu machen. Es wird ins Nichts gepilgert, während sich Konzerne um die freigelegten Rohstoffe kabbeln. Die ökonomische und staatliche Krise führt zu Selbstorganisationen jeglicher Couleur, von selbstgebauten Zeppelinen, mit denen die Luftschiffe der Sicherheitsapparate attackiert werden, bis zu überall aufploppenden, rivalisierenden Ringer-Vereinen, die gegen die rasant angestiegene Alligatorenpopulation genauso Hand anlegen, wie sie die kaputtgesparte Feuerwehr bei ihren Einsätzen unterstützen.
Guse zeigt einen bürgerlichen Staat im Abstieg und mit dem Kongress, in dem natürlich ein über 130 Jahre alter Ernst Bloch (oder jemand, der davon ausgeht, er zu sein) teilnimmt, eine Linke, die es schwer hat, ihre Alternativen zu etablieren. Ganz im Sinne von Gramsci stirbt in „Miami Punk“ das Alte mit Ach und Krach, während sich das Neue nicht traut, sich zofft, auf dem Kopf steht oder einfach lieber mit kaltem Eistee und gesalzenem Knabberkram im Anschlag „Age of Empires 2“ zockt.
„Fakten sind einsame Dinge“, heißt es an gleich mehreren Stellen des Episoden- und Montage-Romans. Solche Romane wie „Miami Punk“, die das Mögliche inmitten grausamer Notwendigkeiten und fataler Fehler in so großartiger Prosa wie der von Guse austarieren, sind noch einsamer.