Mit der in Kürze bevorstehenden NATO-Norderweiterung rückt nicht zuletzt die Halbinsel Kola in der russischen Arktis noch stärker als bisher ins Visier des westlichen Militärpakts. Die Halbinsel besitzt strategische Bedeutung, da auf ihr Russlands Nordflotte stationiert ist; diese hat ihre Hauptbasis in Seweromorsk bei Murmansk, dem „einzige(n) eisfreie(n) russische(n) Hafen in der Arktis“, wie die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in einer aktuellen Analyse festhält. Auf der Halbinsel Kola sind unter anderem mit ballistischen Raketen ausgerüstete U-Boote stationiert, die laut der SWP alleine „etwa zwei Drittel der maritimen nuklearen Zweitschlagfähigkeit Russlands gewährleisten“. Aufgrund der immensen strategischen Bedeutung der nuklearen Zweitschlagfähigkeit hat Moskau das „Bastionskonzept“ rings um die Halbinsel Kola wiederbelebt, das vorsieht, militärische Fähigkeiten in einer Region zu konzentrieren, „um dem Gegner Zugang zu oder Zugriff auf ein geografisches Gebiet zu verwehren“. Russland nehme bei alledem „eine defensive Haltung in der Arktis ein“, konstatiert die SWP auch mit Blick auf die Halbinsel Kola, hält aber fest, Moskau sei „im Konfliktfall“ auch „auf eine rasche Eskalation vorbereitet“.
Wie die SWP konstatiert, sind die NATO und ihre Mitgliedstaaten seit Jahren dabei, ihre militärischen Aktivitäten in der Arktis ganz allgemein und speziell auch in Europas hohem Norden zu intensivieren. Als Beleg nennt die SWP etwa das NATO-Manöver „Trident Juncture“ aus dem Jahr 2018, an dem rund 50.000 Soldaten aus mehr als 30 Staaten mit 250 Flugzeugen und 65 Kriegsschiffen teilnahmen. Hauptmanövergebiet war Zentralnorwegen; einbezogen wurden Luft- und Seegebiete Schwedens und Finnlands. Die Übung war die zweitgrößte der NATO seit dem Ende des Kalten Krieges. Russland antwortete darauf im folgenden Jahr mit dem Großmanöver „Ocean Shield“ – mit 70 Schiffen und 58 Flugzeugen, von denen, wie die SWP schreibt, „einige unmittelbar vor norwegischen Hoheitsgewässern operierten“. Der Vorgang zeigt exemplarisch, wie sich die Militarisierungsspirale im hohen Norden nach oben schraubt. Die Bundeswehr ist daran konsequent beteiligt. Die maßgeblich treibende Kraft sind die USA, deren Teilstreitkräfte inzwischen diverse Arktisstrategien vorgelegt haben. Die Arktisstrategie des US-Heeres wurde am 19. Januar 2021 publiziert – unter dem programmatischen Titel „Die Dominanz in der Arktis zurückgewinnen“.
Längst weiten die westlichen Mächte nicht nur ihre Manöver in Europas hohem Norden aus – sie ergänzen sie auch um provozierende Patrouillenfahrten. Regelmäßig findet etwa die Kriegsübung „Cold Response“ statt, deren Schwerpunkt in Nordnorwegen liegt. In diesem Jahr nahmen an „Cold Response“ rund 30.000 Soldaten aus 27 Staaten teil, darunter einige hundert Soldaten der Bundeswehr. Die Übung war damit die größte der NATO in der Arktis seit dem Ende des Kalten Krieges. Beteiligt waren nicht zuletzt zwei Flugzeugträger-Kampfgruppen, eine US-amerikanische um die „USS Harry S. Truman“ und eine britische um die „HMS Prince of Wales“. Zum Manöverschauplatz, der norwegischen Region Ofoten, hatte es bereits im Vorjahr in einem Vorabbericht geheißen, dieser sei „im Fall eines größeren globalen Konflikts, der Russland im Nordatlantik einbezieht, von strategischer Kernbedeutung“, denn er befinde sich nur „600 Kilometer von der Halbinsel Kola entfernt“. Noch weiter mit Kurs auf die Halbinsel Kola vorgedrungen waren bereits im Mai 2020 ein Zerstörerverband der US Navy sowie die britische Fregatte „HMS Kent“: Sie waren zu einer Patrouillenfahrt in die Barentssee eingefahren – laut der SWP zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges.
Finnland und Schweden nehmen an NATO-Manövern in Nordeuropa wie „Trident Juncture“ oder „Cold Response“ nicht nur regelmäßig teil; sie sind immer wieder – wie etwa bei „Trident Juncture 2018“ – auch Schauplatz von Teilen dieser Kriegsübungen. Dies trifft etwa auf die Manöverserie „Arctic Challenge“ zu, eine Reihe von Luftwaffentrainings, die zum ersten Mal 2013 abgehalten wurden, damals von Norwegen, Finnland, Schweden, Britannien und den Vereinigten Staaten. An „Arctic Challenge 2021“ nahmen bereits neun Staaten teil, darunter die Bundeswehr mit zehn Eurofightern und gut 200 Soldaten. „Arctic Challenge 2019“ hatte diverse Luftoperationen zum Gegenstand, zu denen Kampfjets der NATO und ihrer engsten Verbündeten von Bodø in Norwegen, Luleå in Schweden und Rovaniemi in Finnland aus starteten – sämtlich Luftwaffenstützpunkte am Polarkreis. Das finnische Rovaniemi, damals Manöverstandort der Bundeswehr, liegt nur wenig mehr als 400 Kilometer Luftlinie von der Hauptbasis der russischen Nordflotte in Seweromorsk bei Murmansk entfernt. Der NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens wertet nun künftig die Bedeutung von Kriegsübungen wie „Arctic Challenge“, in denen beide Staaten eine tragende Rolle innehaben, für das westliche Militärbündnis weiter auf.
Russland reagiert auf die Militarisierung von Europas hohem Norden seinerseits mit neuen Aufrüstungsschritten. Bereits Mitte April hatte der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu angekündigt, mit Blick auf die „dramatische Verschlechterung der militärischen und politischen Lage in Europa“ würden rings um die Barentssee „mehr als 500 fortgeschrittene Waffensysteme“ stationiert. Mittlerweile sucht Moskau zu demonstrieren, dass es ihm mit dieser Ankündigung ernst ist. So zeigten die russischen Streitkräfte bei einer Parade zum 9. Mai in Murmansk nicht nur das neue Küstenradar Monolit-BR, das mittlerweile bei der Nordflotte eingesetzt werden soll, sondern auch das Raketensystem 3K60 Bal, das etwa dem Schutz von Marinestützpunkten oder auch der Kontrolle von Küstengewässern dient. Es sei in der Lage, bei günstiger Stationierung auf der Halbinsel Kola das dieser gegenüberliegende norwegische Radarsystem in Vardø im äußersten Nordosten des Landes binnen kürzester Zeit auszuschalten, wird berichtet. Die Militarisierung der Arktis durch die NATO und deren Norderweiterung treiben damit die drohende Rüstungsspirale im hohen Norden Europas unerbittlich voran.