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5/2017 der Marxistischen Blätter
Ab 1. Juli 2017 müssen niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten damit beginnen, ihre Praxen mit neuer Hardware für die so genannte Telematik-Infrastruktur (TI) auszustatten. Auch Krankenhäuser und Rehabilitationszentren sind von der Umstellung betroffen. Ein Jahr später soll der Veränderungsprozess abgeschlossen sein.
Die Umstellung auf TI kostet Milliarden. In einer 2009 ausgestrahlten TV-Sendung von „Monitor“ wurde der Gesamtaufwand für die Digitalisierung mit 14,1 Mrd. Euro beziffert – eine riesige Kostenlawine, die auf die Krankenversicherungen zukommt. Die Ausgaben werden mit Sicherheit noch weiter steigen, wie das bei Projekten der öffentlichen Hand üblich ist, und in der Folgezeit den Beitragzahlenden aufgebürdet. Den Hardware-Betreibern und Software-Firmen aber verspricht die Umstellung Extraprofite.
TI ist Kürzel und Oberbegriff für das Vorhaben, in einem einheitlichen Datennetz alle Akteure und Patienten des Systems der Krankenversorgung zu erfassen: also die Praxen, Krankenhäuser, Reha-Einrichtungen, Krankenkassen und Apotheken zu „vernetzen“, wie es verharmlosend heißt. In Werbebroschüren ist von der „schnellen Datenautobahn im Gesundheitswesen“ die Rede. Der gegenwärtige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe schwärmt: „Eine sichere digitale Infrastruktur verbessert die Gesundheitsversorgung und stärkt die Selbstbestimmung der Patienten.“
Von Ulla Schmid bis Hermann Gröhe
Die Vorgeschichte auf Seiten der Legislative geht zurück auf das vom Bundesgesundheitsministerium unter Ulla Schmid (SPD) eingebrachte Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung in § 291a SGB V vom 14. November 2003. Der Gesetzgeber schrieb die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) zum 1. Januar 2006 vor. Die fristgerechte Umsetzung zum 1. Januar 2006 scheiterte, u. a. aufgrund von Abstimmungsproblemen unter den beteiligten Institutionen der Gesundheitsbranche einerseits sowie zwischen diesen und den Interessen der Unternehmen im Bereich der Informationstechnologie.
Im Zuge einer Neuordnung durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) – immer noch unter Leitung der SPD-Ministerin – erließ dieses deshalb am 5. Oktober 2006 mit Wirkung zum 12. Oktober 2006 eine Neufassung der Verordnung über Testmaßnahmen für die Einführung der eGK (Elektronische Gesundheitskarten-Verordnung – GesKVO). Es verging fast ein Jahrzehnt des Testens, bis 2015 ein weiteres Gesetz folgte: das E-Health-Gesetz. Die Begründung des Gesundheitsministers Gröhe lautete: „Viel zu lange wurde schon gestritten. … Deshalb machen wir Tempo durch klare gesetzliche Vorgaben, Fristen und Anreize, aber auch Sanktionen, wenn blockiert wird.“ Am 27. Mai 2015 verabschiedete das Bundeskabinett den „Gesetzentwurf für sichere digitale Kommunikation und Anwendung im Gesundheitswesen“. Beschlossen wurde das mit Druckmitteln ausgestattete E-Health-Gesetz am 4. Dezember 2015 im Bundestag von den Abgeordneten der Großen Koalition CDU/CSU/SPD und der (eigentlich oppositionellen) Grünen – „wie immer bei solchen Themen zu später Stunde vor wenigen Abgeordneten“ (Dr. Silke Lüder im Hamburger Ärzteblatt 07–08/2016).
Mammutorganisation ohne Patienten
Im Rahmen der institutionellen Vorgeschichte wurde im Januar 2005 die Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH (Gematik) gegründet. Die Gematik gilt als eine Spitzenorganisation des bundesrepublikanischen Gesundheitswesens. In ihr sind zu gleichen Teilen einerseits die Kostenträger (Krankenkassen, private Krankenversicherungen) vertreten und andererseits die Organisationen der so genannten Leistungserbringer: Bundesärztekammer, Bundeszahnärztekammer, Deutscher Apothekerverband, Deutsche Krankenhausgesellschaft, Kassenärztliche Bundesvereinigung und Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung.
„Vertreter der für die Wahrnehmung der Interessen der Patienten und der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen maßgeblichen Organisationen“ gehören lediglich einem Beirat der Gematik an. In diesem Beirats-Organ sind neben den Patienten aber auch die Bundesländer präsent sowie „Vertreter der für die Wahrnehmung der Interessen der Industrie maßgeblichen Bundesverbände aus dem Bereich der Informationstechnologie“, wie es in der Amtssprache heißt. Die Patientenvertretung im Beirat ist umzingelt von Bürokraten und den Wortführern verschiedenster Interessengruppen.
Von der Ausschreibung zur Testphase
Der technische Vorlauf für die Einführung der TI begann mit der Ausschreibung der Erprobungstests der eGK unter den FDP-Gesundheitsministern Philipp Rösler (2009–2011) und Daniel Bahr (2011–2013). Ausschreibungsgewinner war 2013 die Bertelsmann-Tochter Arvato Systems. Arvato sollte die Rechenzentrumsleistungen für den Online-Text der eGK liefern und den kompletten Aufbau und Betrieb der TI übernehmen. Arvato Systems wirbt schon heute auf der Website des Bertelsmann Unternehmens wie folgt: „Sie wissen es vielleicht nicht, aber wir stehen hinter zahlreichen Produkten und Leistungen, die Sie nutzen – im Schnitt hat jeder Verbraucher in Deutschland achtmal täglich Kontakt mit uns.“ Das Arvato-Unternehmen der Bertelsmann-Gruppe war auch für das sektorübergreifende Wide Area Network der Telemedizin zuständig, das ab 2014 in jeweils 500 Arztpraxen und Kliniken in den Testregionen Nordwest und Südost erprobt werden sollte.
Vorausgegangen war den 2006 beschlossenen Erprobungstests die Produktion von Heilberufsausweisen und Institutionskarten für die beiden Testregionen durch zwei Unternehmen. Beim einen, der Atos SE, handelte es sich um einen 1997 gegründeten, börsennotierten französischen Informationstechnologie-Dienstleister mit Hauptsitz in Bezons bei Paris. Das zweite Unternehmen war T-Systems International GmbH, eine Tochter der Deutschen Telekom AG mit Sitz in Frankfurt/Main.
T-Systems zog sich in der Testregion Südost allerdings nach kurzer Zeit aus der Verantwortung als Generalunternehmen zurück, begründet mit „technischen Problemen“. Eine Folge des Ausscheidens von T-Systems war, dass die zentrale Technikanwendung innerhalb eines bereits knapp bemessenen Zeitraums unter weniger Teilnehmern als geplant einem Härtetest unterzogen wurde.
Zuckerbrot und Peitsche
Zu den neuen Geräten, die ab 1. Juli 2017 in Arzt- und Therapeutenpraxen ebenso wie in Krankenhäuser installiert werden, gehören Kartenterminals und Konnektoren. Bei Letzteren handelt es sich um eine Art Router-Geräte, die Datenpakete zwischen den angeschlossenen Rechnern weiterleiten. Für die Anschaffung dieser Hardware erhalten Ärzte und Therapeuten „Zuckerbrot“ in Gestalt einer Vergütung. Diese beträgt je nach Anzahl der in der Praxis tätigen Ärzte zwischen 3 055 (für einen Arzt) und 3 925 Euro (für 7 und mehr Ärzte).
Allerdings kann die Vergütung in dieser Höhe nur dann beansprucht werden, wenn die erstmalige Nutzung des neuen Konnektors im 3. Quartal 2017 erfolgt, d. h. in der Zeit vom 1. Juli bis 30. September 2017. Damit ist ein materieller Anreiz für eine baldige Geräteanschaffung und -nutzung verbunden. Nach dem 30. September 2017 sinkt die Vergütungshöhe, und ab dem 3. Quartal 2018 liegt sie nur noch zwischen 1 155 und 2 025 Euro. Ärzte und Psychotherapeuten, die bis zu diesem Zeitpunkt die Patientendaten nicht online übermitteln, werden sanktioniert. Ihnen wird das Honorar in regelmäßigen Abständen um 1 Prozent gekürzt – die „Peitsche“.
Kostenentwicklung
Basil Wegener von der Deutschen Presseagentur schrieb am 18. Juni 2014, das mit der EGK gestartete TI-Projekt drohe zu einem „Milliardengrab“ zu werden. Je jünger die Prognosen, desto höher die wachsenden Kosten. Im Jahre 2004 ging die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt davon aus, dass sich die Einführungskosten in einer Höhe von 700 Mio. bis einer Milliarde Euro bewegen würden. Schon wenige Wochen später veranschlagten Ärztevertreter und Krankenkassen 1,6 Mrd. Euro.
Eine vom Chaos Computer Club geleakte Kosten-Nutzen-Analyse im Auftrag der Gematik deutete 2006 eine massive Kostenexplosion an. Eine Studie von 2009 veranschlagte die Kosten auf 2,8 bis 6,4 Mrd. Euro für einen Zeitraum von fünf Jahren. Nach einer Recherche des Magazins „Monitor“ im Juli 2009 wurde damit gerechnet, dass die Gesamtkosten sogar auf 14,1 Mrd. Euro anwachsen.
Datenschutz und Datensicherheit
Seit Jahren (und nach wie vor auch heute) bestehen datenschutzrechtliche Bedenken. Diese beziehen sich auf die Sicherheit der Übermittlung und Speicherung von personenbezogenen Daten durch die Server der Telematik-Infrastruktur. Auf dem 120. Deutschen Ärztetag vom 23. bis 26. Mai 2017 in Freiburg im Breisgau wurde, nicht zum ersten Mal, vor den vielfachen Risiken gewarnt, die in einem System der total vernetzten Krankenversorgung – die Ärzte nennen es immer noch „Gesundheitswesen“ – vorauszusehen sind. Es sei viel zu riskant, Patientendaten in der Cloud zu speichern. Cyberangriffe auf Kliniken und Praxen gefährdeten die Sicherheit der Patienten. Verwiesen wurde in diesem Zusammenhang auf den Kryptotrojaner WannaCry, durch den zwei Wochen vor dem Ärztetag zahlreiche Krankenhäuser in England lahm gelegt wurden.
Bedrohlich ist vor allem die Vorstellung, dass kriminelle Einzeltäter oder Banden über den Zugang zu und den Missbrauch von Daten Informationen erlangen können, die sie in betrügerischer oder erpresserischer Absicht zu Lasten der Patienten „versilbern“. Neben der Gefahr des Zugriffs von externen Hackern auf die Patientendaten besteht Grund zur Sorge, dass die an der IT beteiligten Institutionen die für sie im Datennetz zugänglichen Informationen missbrauchen. Vertreter der gesetzlichen wie der privaten Kassen machen sich bereits ernsthaft Gedanken, wie mit den ihnen zugänglichen Daten relevante Erkenntnisse über die Versicherten – aber auch über die Ärzteschaft und das Gesundheitspersonal – gesammelt und ausgewertet werden können.
Die Serverarchitektur gestattet es den Kassen, mit minimalem Aufwand herauszufinden, wo z. B. bei den Behandlungskosten von Patienten eines bestimmten Krankheitsbildes Abweichungen nach oben festzustellen sind, um diese abzustellen. Mittels entsprechender Algorithmen lassen sich standardisierte Behandlungs- und Arzneiempfehlungen zur Kostensenkung generieren. Die künftigen Möglichkeiten und Dimensionen der Auswertung von Big-Data-Algorithmen sind noch kaum vorstellbar, aber nicht von der Hand zu weisen.
Ein Interesse am Zugang zu den entsprechenden Daten haben neben den Krankenkassen auch Großfirmen aus den Bereichen Labor, Pharma, Banken, Versicherungen, IT-Unternehmen, Lebensmittelindustrie und Tourismus. Die Verfügbarkeit von Daten über z. B. eine Schwangerschaft, eine Krebserkrankung, einen Unfall, Flugangst, Depression oder Altersbeschwerden erlauben den Firmen eine entweder zielgruppengemäße oder individuell passgenaue Werbung für ihre Produkte bzw. die Entwicklung solcher Produkte.
Überwachung und Herrschaftsausübung
Der „gläserne Patient“ und der „gläserne Arzt bzw. Psychotherapeut“ werden im Verlauf der Digitalisierung zum ohnmächtigen Objekt einer gigantischen Überwachungsmaschinerie zur Ausübung von Herrschaft und zur politischen Unterdrückung. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie warnte zu Recht, aber vergeblich vor der „Verwertung der Daten zum Zweck der Kontrolle des Verhaltens von Ärzten und Patienten.
Neben Krankenkassen und Großfirmen werden es sich auch die Geheimdienste nicht entgehen lassen, die zentralisierten Daten anzuzapfen. Das erklärt offensichtlich, warum die unterschiedlichen Bundesregierungen – die rot-grüne ebenso wie die christlich-liberale und die Große Koalition – seit Einführung der eGK das Projekt der Digitalisierung so hartnäckig weiterverfolgen.
Wir sehen uns einer neuen Stufe in der Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus gegenüber: Die Digitalisierung des Systems der Krankenversorgung ist das gemeinsame Interesse von Staat und Monopolen. Die Monopole ziehen daraus enorme Profite, und der Staat verspricht sich willig lenkbare Untertanen. Es ist daher nicht nur eine Sache des Gesundheitswesens und seiner Zukunft, die am Beispiel der technischen Umstellung auf die Telematik-Infrastruktur verhandelt wird, sondern es betrifft die gesamte Gesellschaft und die Zukunft der Demokratie … soweit man gegenwärtig überhaupt noch davon sprechen kann.