Am Morgen des 31. Januar waren Truppen der Roten Armee in das Kaufhaus „Univermag“ eingedrungen, in dessen Keller sich das Hauptquartier der 6. Armee befand. Nach weiteren Angriffen der Roten Armee auf die noch verbliebenen deutschen Stellungen gab Generalmajor Roske, Kommandeur der 71. Infanterie-Division, im Südkessel auf. Im Hauptquartier der 6. Armee begannen die Übergabeverhandlungen. Am gleichen Tag kapitulierte auch der von Generaloberst Heitz befehligte Mittelkessel. Die Reste der deutschen und rumänischen Truppen im Nordkessel ergaben sich am 2. Februar 1943. Damit endete die Schlacht um Stalingrad mit dem vollständigen Sieg der Roten Armee. Viktor Nekrassow, der die gesamte Schlacht um Stalingrad als stellvertretender Kommandeur eines Pionierbataillons an vorderster Front durchlebt hatte, schrieb in einem Buch, das er gleich nach Kriegsende – von schwerer Verwundung gezeichnet – ohne alle schriftstellerischen Vorkenntnisse – verfasste: „Wir kamen nach Stalingrad als fast Zerschlagene und haben trotzdem fünfeinhalb Monate ausgehalten. (…) Sicher, wir waren schwächer, auch technisch schlechter ausgerüstet. (…) Aber verteidigt haben wir unsere Häuser, unsere Familien.“ (Viktor Nekrassow, Stalingrad, Berlin 1954)
Mitte Juli 1942 begannen die Truppen der faschistischen Wehrmacht und ihrer Verbündeten den Sturm auf Stalingrad Es entbrannte die entscheidende Schlacht des zweiten Weltkrieges. Trotz pausenlosen Einsatzes neuer Kräfte konnten die Faschisten die Stadt, die von ihnen vollständig zerstört wurde, infolge des heldenhaften Widerstandes ihrer Verteidiger nicht nehmen. Nach riesigen Verlusten mussten sie Mitte Oktober zur Verteidigung übergehen. Mitte November 1942 setzte nach sorgfältiger Vorbereitung und der Heranziehung neuer Kräfte die sowjetische Gegenoffensive ein, die zur Einschließung der bei Stalingrad stehenden 330 000 Mann starken Gruppierung der faschistischen Wehrmacht führte. Seit dem 22. November waren die 6. Armee der Wehrmacht und rumänische Einheiten völlig von sowjetischen Truppen eingekesselt. Entlastungsangriffe der Okkupanten führten nicht zum Erfolg. Ab 24. November mussten die Rationen der Eingeschlossenen halbiert, später noch weiter reduziert werden.
In seiner dokumentarischen Geschichte über die Arbeiterin Plastikowa, die Anfang der 30er Jahre in Stalingrad das erste sowjetische Traktorenwerk mit aufbaute, während der Schlacht um Stalingrad in der Stadt blieb und nach dem Krieg am Wiederaufbau beteiligt war, beschrieb Josif Gummer die Situation in den letzten Wochen der Schlacht. Nicht nur die kämpfenden Soldaten gehörten zu den Helden, sondern auch Zivilisten, wie die Arbeiterinnen und Arbeiter der Panzerfabrik, die die Produktion so lange wie möglich in Gang hielten, dann andere Aufgaben übernahmen: „(…) dennoch wurde es von Tag zu Tag etwas leichter. Die Kräfte der Deutschen ließen nach, ihre Angriffe waren nicht mehr so wütend wie früher, die Feuerkraft hatte abgenommen. Manchmal waren sogar ganz stille Stunden. Dann sammelten die Komsomolzen Kinder ein und brachten sie in ihren Unterstand. Und da kamen viele Kinder zusammen: Sie waren von ihren Eltern getrennt worden, oder sie hatten Vater und Mutter für immer verloren.
(…) Gar nicht weit vom Ufer entfernt war der steinerne Keller irgend eines Gebäudes erhalten geblieben. Chupawyj, Schekowetz und Kusnetzow steckten verbranntes Eisen in die Einschlaglöcher. Die anderen Komsomolzen brachten Reste von Matratzen und allerhand alte Sachen zusammen. Und schon hatten sie einen akzeptablen und – was das Wichtigste war – sicheren Kindergarten mit dicken Steinmauern, die gegen Gewehrfeuer und Granatsplitter schützten.
Es ging auf Neujahr zu (…)
‚Die Soldaten haben gesagt, dass im Garten zwei Fichten heil geblieben sind. Wollen wir‘s probieren?‘ Zu dritt krochen sie los: die Plastikowa, Chupawyj und Schekowetz.
Es dunkelte bereits. Die Schießereien hatten fast aufgehört. Manchmal ging eine Mine hoch, und Geschosse pfiffen durch die Luft. Ohne den Kopf hochzurecken, krochen die drei über das zerschossene Niemandsland zu dem dunklen Garten. (…) Jetzt musste man ein paar ordentliche Zweige abreißen und dann nichts wie zurück.
Chupawyj erhob sich, und im selben Augenblick ertönte ein Schuss. Eine Kugel pfiff über seinen Kopf hinweg.
‚Leg dich hin‘, flüsterte die Plastikowa.
Der Schuss konnte zufällig sein. Hauptsache, man rührte sich jetzt nicht und verriet mit keiner Regung seine Anwesenheit. So, schon gut. Noch ein bisschen warten. Jetzt konnte man‘s nochmal versuchen. ‚Pf … pfff … Oh, großer Mist. Sie haben uns bemerkt. Nur gut, dass sie bloß ein MG haben. Wenn sie eine Mine werfen, ist es aus. – Was machen wir jetzt? Unmöglich, nach so einer gefährlichen Exkursion mit leeren Händen zurückzukommen.‘
Chupawyj stieß die Plastikowa an und zeigte ihr den Bindfaden, den er mitgenommen hatte.
‚Wirf ihn da hin. Nur steh nicht allzu hoch auf. ‘
Als sie ziemlich viel Zweige beieinander hatten, krochen sie zurück. Der Rest war dann ein Kinderspiel: sie banden die Zweige zusammen, befestigten sie an einem hölzernen Untergestell. Es fragte sich jetzt nur noch, wie man diesen Weihnachtsbaum schmücken sollte. Ein Soldat schaute zu ihnen in den Unterstand. ‚Ich hab gehört, ihr macht für die Kinder einen Weihnachtsbaum? Na, vielleicht passen da meine Sächelchen dazu?‘
Er brachte Patronenhülsen an, in denen Holzstöckchen staken und darauf Papierfiguren: ein Hahn mit grünem Kamm, ein Huhn mit drei Beinen und ein Hund ohne Schwanz. (…)
Abends am 3l. Dezember brachte man durch Gräben und Verbindungswege die Kinder in den Keller. (…)
Hinter den steinernen Wänden des Kellers trommelten die Einschläge von MG-Feuer, das Rattern von Maschinenpistolen war zu hören und das helle Pfeifen von Gewehrkugeln …
Am 2. Februar hörte man neben dem Unterstand eine laute Schießerei. Es wurde in die Luft geschossen. Von allen.
‚Was ist denn los?‘ verwunderte sich die Plastikowa.
‚Schluss! Aus! Die Deutschen haben sich ergeben!‘
Irgendwer umarmte sie. Dann umarmte auch sie jemanden. Sie sah ihre Komsomolzen mit den Soldaten zusammenstehen, dabei die herumspringenden Kinder. Etwas weiter entfernt Chupawyi und Sehekowetz … Und wie im Traum ging sie zur Fabrik. Dorthin, wo sie ihre Jugend verbracht hatte, wo viele Freunde und Genossen ihr Leben verloren hatten, wo Tage und Nächte lang die Kämpfe gewütet hatten …“ (Wassil Bykow/Josif Gummer, Alarm, Kleine Arbeiterbibliothek, München 1977)