In der jüngsten Ausgabe der „Kommunistischen Arbeiterzeitung“ (KAZ) befasst sich die AG Palästina mit der weit zurückreichenden Traditionslinie der deutschen Staatsräson hinsichtlich Palästinas. UZ dokumentiert den Beitrag in gekürzter und redaktionell bearbeiteter Form und dankt der KAZ für die Genehmigung zum Nachdruck.
Als Benjamin Netanjahu Ende September 2023 vor der UN eine Karte des „Neuen Nahen Ostens“ hochhielt, umfasste der als Israel gekennzeichnete Bereich auch das Westjordanland und Gaza – also Israel vom Jordan bis zum Meer! Ein Palästina kam da nicht mehr vor. Kein Protest, kein Aufschrei in den westlichen Medien, wenn die Existenz von palästinensischen Gebieten infrage gestellt wird! Dagegen ist hierzulande der Slogan „From the river to the sea – Palestine will be free“ verboten, wenn er auf Demonstrationen zur Solidarität mit den Palästinensern gerufen wird, da dies die Existenz des Staates Israel negiere.
Die Ereignisse vom 7. Oktober 2023 werden zwischenzeitlich nicht nur von der AfD als Anlass benutzt, um vor dem Hintergrund eines angeblichen Kampfs gegen Antisemitismus rassistische Parolen und Hetze gegen arabischstämmige Deutsche und Flüchtlinge zu verbreiten. So wird auch in den bürgerlichen Medien gegen Palästinenser und deren Organisationen in Deutschland wegen unterstellter terroristischer Ziele gehetzt. Selbst die UN-Flüchtlingsorganisation UNRWA bleibt dabei nicht verschont. Wer den brutalen, menschenverachtenden Militäreinsatz der israelischen Armee in Gaza gegen die Zivilbevölkerung verurteilt oder auch nur ernsthaft infrage stellt, wie zum Beispiel zuletzt auf der Berlinale, wird des Antisemitismus verdächtigt und angeklagt. Der Antisemitismusbegriff wird durch die deutsche Staatsräson seines eigentlichen Inhalts beraubt und zum politischen Schlaghammer pervertiert, um jede Kritik an der reaktionär-faschistischen israelischen Regierung und ihrem Führer Netanjahu als antisemitisch zu brandmarken.
Die Naziverbrechen des Holocaust werden als Begründung herangezogen, der israelischen Regierung einerseits einen Freifahrtschein auszustellen und andererseits die Rechte und Interessen der Palästinenser nicht einmal verbal ernsthaft einzufordern. Dieses Verhalten der deutschen Regierung hat eine lange Tradition und reicht bis in das wilhelminische Kaiserreich des 19. Jahrhunderts zurück. Wir zeigen hier in einer Zusammenfassung die wichtigen Linien der Entwicklung der Staatsräson des deutschen Imperialismus. Sie bestand im Wesentlichen in der „Ausschaffung“ der Juden aus Deutschland nach Palästina ohne Rücksicht auf die dort lebende Bevölkerung. Dabei spielten die Zionisten eine besonders begünstigende Rolle.
Die Ideologie des Zionismus
Die Forderungen des Zionismus entstanden im 19. Jahrhundert infolge der jahrhundertelangen Verfolgung der Juden in Europa. Im Zeitalter der Nationalbewegungen entwickelte sich etwas verspätet auch die jüdische nationale Bewegung des Zionismus, im Wesentlichen in den deutschsprachigen Gebieten in Mitteleuropa. Die Juden sollten sich als eigene Nation mit einem eigenen Land in Palästina konstituieren, um endlich der dauernden Verfolgung zu entgehen. Die Zionisten forderten für ein „Volk ohne Land ein Land ohne Volk“, wohl wissend, dass das in Palästina nicht ohne die Verdrängung der dort seit Jahrhunderten lebenden vorwiegend arabischen Bevölkerung ginge.
Ein Teil der Zionisten um den Baron von Rothschild begann damit, in Palästina durch Landkauf und landwirtschaftliche Betriebe Juden anzusiedeln und die Palästinenser als billige Arbeitskräfte zu beschäftigen – also ein Leben nebeneinander, wenn auch ein solches von Herren und Knechten. Doch nicht dieser Plan hat sich durchgesetzt, sondern das Projekt des deutschen Ansiedlungskolonialismus, wie er in der neuen Provinz Posen (ehemals Polen) vom preußischen Staat entwickelt und von den deutschen Siedlern praktiziert wurde. Zur Gewinnung von neuem „Lebensraum“ in Posen wurde durch Landkauf und Landraub die polnische Bevölkerung verdrängt und durch deutsche Siedler ersetzt.
Dieser ausgrenzende Nationalismus wurde von den Zionisten um Theodor Herzl übernommen und ist bis zum heutigen Tag das bestimmende politische Konzept der Ansiedlung der Juden in Palästina. Das Ziel war es, in Palästina eine „Heimstätte“ für Juden zu schaffen. Alle zionistischen Strömungen hatten mehr oder weniger dieses Ziel. Diese Linie fand bisher ihren größten Sieg mit dem Nationalstaatsgesetz von 2018, das Israel als jüdischen Staat festschreibt, „das ganze und vereinigte Jerusalem“ als Hauptstadt bestimmt, Hebräisch als Amtssprache festlegt und „im jüdischen Siedlungsbau einen nationalen Wert“ sieht: Der Staat „ermutigt und unterstützt den Bau und die Konsolidierung jüdischer Siedlungen“. Hier wird die Politik der Elimination der Palästinenser durch Aufkauf und Landraub zum staatlichen System erhoben und dadurch schlussendlich die weitere Annexion von palästinensischem Land vorbereitet.
Kontinuität von der Kaiserzeit zur Weimarer Republik
Die antisemitischen, ausgrenzend völkischen Kräfte der deutschen Kaiserzeit um 1900, die die „Ausschaffung“ der Juden aus Deutschland verfolgten, entsprachen weitgehend den Vorstellungen und Forderungen der Zionisten. Der Zionismus wurde daher von den deutschen Antisemiten von Anfang an unterstützt, da dies sowohl eine Möglichkeit zur „Lösung der Judenfrage“ bot als auch den wirtschaftlichen und expansionistischen Interessen des deutschen Imperialismus im Nahen Osten entsprach.
Die Zionisten waren jedoch unter den Juden bis zum Machtantritt der Nazis 1933 eine deutliche Minderheit, namentlich in Deutschland. Die übergroße Mehrheit der Juden wollte als Bürger in ihren jeweiligen Nationalstaaten weiterleben und gleiche Rechte erhalten und behalten.
Während des Ersten Weltkriegs war es das Ziel der deutschen Regierung, unter einem deutsch-osmanischen Schutzdach mithilfe der Zionisten in Palästina eine jüdische Heimstätte zu schaffen. Doch der deutsche Imperialismus geriet 1917 durch die militärische Niederlage des Osmanischen Reichs in Palästina und die eigene Kriegsniederlage 1918 auch im Nahen Osten gegenüber Britannien ins Hintertreffen. Mit der „Balfour-Deklaration“ versprachen die Briten den Zionisten 1917, sofort nach ihrem militärischen Sieg eine „nationale Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“ zu schaffen.
Die deutschen Regierungen der Weimarer Republik verfolgten ebenfalls als Staatsräson die Schaffung eines jüdischen Staates in Palästina und arbeiteten dabei eng mit der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) zusammen mit dem gemeinsamen Ziel einer Massenauswanderung von Juden. Diese Staatsräson fand schon damals die breite Unterstützung von fast allen bürgerlichen Parteien einschließlich der Nazis und auch der rechten Sozialdemokratie. Seit 1918 gab es ein „Deutsches Komitee zur Förderung der jüdischen Palästinasiedlung“, das 1926 in „Deutsches Komitee Pro-Palästina“ umbenannt wurde. Dort versammelte sich die gesamte Crème de la Crème der Weimarer Republik aus Staat, Wirtschaft und Wissenschaft. Dennoch verlief die Auswanderung von Juden nach Palästina nur schleppend.
Nazizeit
Das änderte sich schlagartig, als den Nazis die Macht im Staat übertragen wurde. Die Auswanderungszahlen gingen stetig in die Höhe. Schon im August 1933 wurde zwischen den Nazis und den Zionisten zum gegenseitigen Nutzen das Haavra-Transferabkommen geschlossen, das die Übertragung des jüdischen Vermögens nach Palästina regelte – nach Abzug eines Teils als „Reichsfluchtsteuer“. Dies verschaffte den Zionisten in Palästina eine wesentliche finanzielle Stärkung und den Nazis Geld in die Staatskasse und gleichzeitig Einfluss in Palästina.
Nach der militärischen Eroberung Palästinas 1917 durch die Briten hatten diese 1920 im Rahmen eines Völkerbundmandats die völkerrechtliche Anerkennung ihrer Herrschaft über Palästina erhalten. Dies behinderte die deutsche Staatsräson der „Ausschaffung“ der Juden nach Palästina aber zunächst gar nicht und die Nazis konnten die Politik der Weimarer Jahre weitgehend übernehmen. Durch die sofort einsetzende Diskriminierung und Verfolgung der Juden in Nazideutschland verließen immer mehr von ihnen ihre Heimat Richtung Palästina. Im Gegensatz dazu konnten die Zionisten mit ihrem ZVfD bis 1938 mit staatlichem Wohlwollen rechnen und ihre Publikation „Palästina – Zeitschrift für den Aufbau Palästinas“ weitgehend ungestört vertreiben. Die Zionisten waren bis auf wenige Ausnahmen keine Anhänger des Faschismus, aber sie waren „ein nützlicher Feind“ für die Nazis.
Die deutsche Staatsräson mit der forcierten jüdischen Auswanderung verschärfte die Situation in Palästina, zumal die Briten die jüdischen Siedler direkt unterstützten beziehungsweise weitgehend gewähren ließen. Dies führte von 1936 bis 1939 zu einer immer gewaltsameren Revolte der Palästinenser gegen die Briten und die jüdischen Siedlungen. Die britische Mandatsmacht begrenzte daraufhin die Einwanderung der Juden nach Palästina, schlug den palästinensischen Widerstand blutig nieder und vernichtete die politische Führung der Palästinenser fast vollständig.
Die Elimination der Juden aus Deutschland durch die Nazis änderte sich mit Beginn des Zweiten Weltkriegs grundsätzlich und führte dann spätestens seit der Wannseekonferenz im Januar 1942 zur massenhaften, industriemäßigen Vernichtung von Millionen Juden im Holocaust.
Nachkriegszeit und der Staat Israel
Traditionell bestand die deutsche Staatsräson darin, möglichst viele Juden aus Deutschland zu eliminieren und ihnen in Palästina – ohne nennenswerte Rücksicht auf die dort lebende arabische Bevölkerung – eine „jüdische Heimstätte“ zu verschaffen. Nach dem Holocaust und mit der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 veränderte sich die deutsche Staatsräson dahingehend, dass „die Ausschaffung der Juden“ nicht mehr auf der Tagesordnung stand. Die „Heimstätte“ war geschaffen gegen den Widerstand der Palästinenser und unter Vertreibung von rund 700.000 von ihnen während der Nakba von 1947 bis 1949. Die völkerrechtlichen Interessen und die Menschenrechte der Palästinenser waren dabei zweitrangig. Aufgrund der Verbrechen des Holocaust war und ist das Existenzrecht des Staates Israel wesentlicher Teil der Renaissance der deutschen Staatsräson nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese wurde 2008 von Angela Merkel vor der Knesset erneut versichert: „Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.“
Dabei besteht die deutsche Staatsräson heute aber nicht nur in der bedingungslosen Verteidigung der Existenz des Staates Israel, sondern parallel in der Absicherung eines erklärtermaßen jüdischen Staates, der gegenüber den Palästinensern eine rassistische Politik der Entrechtung und des Landraubs betreibt. Wer aber einen solchen Staat bedingungslos verteidigt, hält die Option offen, ähnliche Verhältnisse hier bei uns zu schaffen. Das öffnet die Türen zur Rechtfertigung für einen Staatsumbau, für eine „Zeitenwende“ auch in der Staatsräson bei uns.