Das vollständige Referat erscheint in den DKP-Informationen und kann unter blog.unsere-zeit.de heruntergeladen werden.
„Düster“ – so fasst Rainer Perschewski seine Einschätzung zum Bewusstsein der Arbeiterklasse in unserem Land zusammen. Er hielt am vergangenen Wochenende, an dem der DKP-Parteivorstand diskutiert hat, wie die Kommunisten ihre Verankerung in den Betrieben stärken und zur Formierung der Arbeiterklasse zur handelnden Kraft beitragen können, das Referat. UZ dokumentiert leicht bearbeitete Auszüge.
Erstmals seit Jahrzehnten geht die DKP wieder konkrete Schritte, um ihre Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit aufzubauen. In vielen Diskussionen oder Beiträgen der Vergangenheit um die Umsetzung der entsprechenden Beschlüsse des 21. und 22. Parteitags wird jedoch deutlich, dass es dringend geboten ist, sich mit den theoretischen Grundlagen rund um die Arbeiterklasse zu beschäftigen. Die Entwicklung der DKP seit 1987 hat in den letzten Jahrzehnten zu einer sinkenden Verankerung und einem eher theoretisierenden Umgang der Partei mit diesem Thema geführt. So können uns heute viele Genossinnen und Genossen theoretisch erklären, was „die“ Gewerkschaften alles falsch machen, wie „die“ Gewerkschaften eine Politik für die Arbeiterklasse machen müssten, ohne dabei selbst an real stattfindenden Kämpfen, geschweige denn an Aktionen und Debatten der Gewerkschaften beteiligt zu sein.
Für meine konkrete Praxis merke ich zudem, dass mir – von einigen Grundlagen abgesehen – kaum noch Hinweise helfen, deren Erfahrungshorizont schon einige Jahre zurückliegt. Das hat mit der sich verändernden Arbeitswelt zu tun – Veränderungen, die an Geschwindigkeit zunehmen, wenn man die technische Entwicklung oder die Struktur der Arbeiterklasse betrachtet.
Wie Dinosaurier
In den vergangenen Jahrzehnten konnte man den Eindruck gewinnen, dass Klassen oder Klassenpolitik in der politischen Linken keine Rolle mehr spielen – es schien fast, als wäre es dasselbe, ob man von Klassen spricht oder von Dinosauriern. Für die dominierenden bürgerlichen Vorstellungen von Demokratie ist das eine gute Voraussetzung, um Illusionen in Staat und Gesellschaft weiter aufrecht zu erhalten. Das hat sich inzwischen wieder leicht geändert. Mit dem „Projekt Klassenanalyse“ der Marx-Engels-Stiftung gab es einen ersten Versuch, aus unseren Kreisen heraus die Diskussion zu führen. Dieser Versuch hat zwar einige Grundlagen geschaffen, ist aber steckengeblieben und hat auf die Politik der DKP keinen nachhaltigen Einfluss gehabt. In den letzten Jahren haben die Veröffentlichungen unter der Überschrift „neue Klassendiskussion“ oder „neue Klassenpolitik“ aber wieder zugenommen. Hierzu ist auf Veröffentlichungen aus der Partei „Die Linke“ oder deren Umfeld zu verweisen, die eine neue „zeitgemäße“ Klassenpolitik fordern, oder auf das Projekt Klassenanalyse an der Universität in Jena.
Auch wir haben – trotz unseres Verständnisses als Partei der Arbeiterklasse – die Analyse der Entwicklungen in den vergangenen Jahren vernachlässigt. Insofern kann dieses Referat nur ein Aufschlag für eine Debatte sein. Außerdem müssen wir uns einige Grundlagen wieder ins Gedächtnis rufen.
Abhängig und kommandiert
Lenins Definition, was eine Klasse ist, können wir für den Zweck dieser Diskussion etwa so anwenden: „Als Arbeiterklasse bezeichnet man Millionen von Frauen und Männern, die unter kapitalistischen Produktionsbedingungen arbeiten, die keine Produktionsmittel besitzen, die darum gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie verrichten ihre Arbeit in abhängiger, kommandierter, untergeordneter Position. Sie erlangen Einkommen (Lohn/Gehalt) und einen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum, der geringer ist als der von anderen Klassen und Schichten.“
Zur Arbeiterklasse in Deutschland gehören also die Arbeiter, fast alle Angestellten und große Teile der Beamten und ihre Angehörigen, ebenso die Erwerbslosen, ihre nicht berufstätigen Angehörigen und die Rentner, soweit sie früher zur Arbeiterklasse gehörten. Nach den Zahlen der offiziellen Statistik können wir schätzen, dass ungefähr 75 Prozent der Bevölkerung in unserem Land zur Arbeiterklasse gehören.
Dieser Klasse steht – vereinfacht – die Klasse der Kapitalisten gegenüber, die aus privaten Eigentümern der Produktionsmittel besteht, die ihr Einkommen aus dem Mehrwert in der Produktion erzielt. Hieraus ergeben sich die unvereinbaren Interessen – die Klassengegensätze.
Wissen nur aus der Praxis
In Meinungsäußerungen und Debatten zur Betriebs- und Gewerkschaftspolitik der Partei sind Inhalt und Bedeutung des Klassenbewusstseins der Arbeiterklasse häufig „gefühlten“ Definitionen unterlegen. Es ist offensichtlich verlockend, den Bewusstseinsstand der Arbeiterklasse aus allem möglichen herzuleiten, aus Umfragen oder „repräsentativen“ Erhebungen, bestenfalls noch aus Aktionen in Tarifauseinandersetzungen.
Wie jedoch können wir uns dem Thema für die Praxis annähern? Es mag banal klingen: Die Verankerung in der Arbeiterklasse gibt uns Erkenntnisse über die Bedingungen der Bildung und Entwicklung des Klassenbewusstseins an die Hand und ist somit Voraussetzung, um Klarheit zu gewinnen über das, was im Sinne von Marx, Engels und Lenin unter Klassenbewusstsein zu verstehen ist.
Die Perspektive erkennen
Dieses Bewusstsein der Klasse „für sich“ ist also mehr als die aktuelle Meinung, die durch Umfragen abgebildet wird, wie zum Beispiel die IG-Metall-Umfrage vor einigen Jahren. Das Bewusstsein der Klasse ist mehr als die Themenschwerpunkte, die im Projekt „Gute Arbeit“ der DGB-Gewerkschaften festgehalten werden oder die Ergebnisse des „Gute-Arbeit-Index“. Klassenbewusstsein der Klasse „für sich“ umfasst die Einsicht in die grundlegenden Gegenwarts- und Zukunftsinteressen der Klasse. Es ist politisches Bewusstsein und umfasst das Bewusstsein um die Existenz des gesamtgesellschaftlichen Klassengegensatzes von Kapital und Arbeit. Es umfasst die Einsicht in die Notwendigkeit des politischen Kampfes und die Konzentration und Erkenntnis des Klassenkampfes der Arbeiterklasse im politischen Kampf. Und es umfasst die Einsicht, dass die ökonomische, politische und geistig-moralische Befreiung der Arbeiterklasse nur durch die Erringung der politischen Macht und die Überwindung des Kapitalismus möglich ist.
Wir fassen also entwickeltes Klassenbewusstsein als die Bejahung und das Sich-zu-eigen-Machen der entscheidenden Schlussfolgerungen des wissenschaftlichen Sozialismus auf.
Damit besteht ein Zusammenhang von Klassenbewusstsein und der Existenz von gewerkschaftlichen sowie politischen Klassenorganisationen, was eine Voraussetzung für die soziale Emanzipation der Arbeiterklasse ist. Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur auf dem Weg der revolutionären Umwälzung erfolgen. Die Verankerung der Partei in der Arbeiterklasse wird letztlich darüber entscheiden, ob wir diesen Weg beschreiten können oder nicht. Politisches Klassenbewusstsein kann nicht im Selbstlauf entstehen. Es kann, wie Lenin sagt, „dem Arbeiter nur von außen gebracht werden“. Klassenbewusstsein zu vermitteln, diese Erkenntnisse in die Arbeiterklasse zu tragen, das ist die Aufgabe der Kommunistischen Partei.
Isolierte Kämpfe
Welche Faktoren fördern oder hemmen die Entwicklung von Klassenbewusstsein? Die gesellschaftlichen Kämpfe heute haben drei grundlegende Merkmale:
1. Die Kämpfe haben einen defensiven Charakter. Es sind Verteidigungskämpfe, und das seit Jahrzehnten. Wir haben es seit etwa Mitte der 1970er Jahre (zunächst nur in der alten BRD) mit einem Umbau der sozialen Sicherungssysteme, dem Abbau demokratischer Rechte und der Enteignung von Gemeineigentum zu tun. Erfolge sind nur kurzzeitig und partiell zu verzeichnen. Das hat Auswirkungen auf das Bewusstsein der Arbeiterklasse.
2. Die Zusammensetzung der Arbeiterklasse nach Gruppen und Schichten unterliegt deutlichen Veränderungen: Berufs- und Qualifikationsgruppen, Lohngruppen, Männer und Frauen, Demografie, volkswirtschaftliche Sektoren, Betriebsgröße. Kämpfe finden bestenfalls isoliert voneinander statt, die soziale Erfahrung zum Beispiel von prekär Beschäftigten und Angehörigen der Stammbelegschaften ist nicht dieselbe. Das verhindert die Formierung und den positiven Bezug auf die Kämpfe. Beide Elemente bestimmen die spontane Bewusstseinsbildung der Klasse – und fördern korporatistisches Denken.
3. Die derzeitigen Veränderungen in der Arbeitswelt durch die Wissenschaftlich-technische Revolution – um nicht von Industrie 4.0 oder Arbeit 4.0 zu reden – bzw. die Entwicklung der Produktivkräfte sind erheblich und haben ihre Wirkung noch nicht voll entfaltet, die Veränderungen sind aber spürbar. Diese Veränderungen werden bewirken, dass ein großer Teil von Erwerbsarbeit im Dienstleistungsbereich und in administrativen Bereichen wegfallen. Dies wird zur weiteren Spaltung der Gesellschaft führen und qualifizierte Arbeitskräfte überflüssig machen.
Ausdruck unserer Schwäche
Zu Recht sind die Mitgliedsgewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes immer der Orientierungspunkt in der Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit der DKP gewesen und sollten es auch in Zukunft sein. Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften vertreten Prinzipien, die auch wir als Kommunisten für elementar halten: den gemeinsamen Kampf zu organisieren und nicht für exklusive Einzelinteressen einzutreten. Diese Gewerkschaften sind „Einheitsgewerkschaften“, also vereinen in sich die ideologische Bandbreite der Arbeiterklasse. Das sollte man nicht vergessen, wenn man die Politik der Gewerkschaften einschätzt.
Trotz eines deutlichen Mitgliederschwunds – der sich meines Erachtens gerade umkehrt – sind die Mitgliedsgewerkschaften des DGB die größte Klassenorganisation und die einzige, die in der Lage wäre, die Verhältnisse in diesem Land zum Tanzen zu bringen und das Kapital dort zu treffen, wo es wehtut. Sie sind, wie Marx es nennt, die „Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals“.
Die Politik und das Handeln der Gewerkschaften kann revolutionär sein (derzeit eher kaum), kann aber auch reformistisch oder sozialpartnerschaftlich sein und entspricht damit dem ideologischen Zustand der Klasse. Gewerkschaftspolitik ist immer auch ein Ausdruck des Klassenbewusstseins. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir in der Arbeiterklasse nur über einen marginalen Einfluss verfügen. Die Lage in den Gewerkschaften ist damit auch ein Ausdruck unserer Schwäche.
In den Gewerkschaften besteht eine Hegemonie sozialpartnerschaftlicher Vorstellungen. Die Gewerkschaften konzentrierten sich in den letzten Jahrzehnten auf Stammbelegschaften großer Unternehmen. Die Organisierung von Erwerbslosen, prekären Beschäftigten und in Unternehmen unter 500 Beschäftigten spielte kaum eine Rolle. (Aktuell gibt es Ansatzpunkte, davon abzurücken und wieder den „Häuserkampf“ zu führen.)
Die Gewerkschaften haben durch ihre Tarifpolitik gesamtgesellschaftlich faktisch die Standortlogik des Kapitals und seiner Regierung gestützt. Die Unterstützung des „Exportmodells Deutschland“ und der Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Industrie ist im internationalen Maßstab gesehen eine Lohndumping-Politik.
Auch in der Programmatik des DGB spiegelt sich der Niedergang des Einflusses der revolutionären Arbeiterbewegung in der Nachkriegsgeschichte: War das DGB-Programm von 1949 noch klar antikapitalistisch ausgerichtet, sieht das heute gültige Dresdener Programm von 1996 den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit als einen von vielen „Widersprüchen“ und sieht die Perspektive in einer sozial regulierten Marktwirtschaft.
Ebenso muss man feststellen, dass in den Perioden der Regierungsbeteiligung der SPD der Widerstand gegen den Abbau sozialer Leistungen nur mäßig organisiert war. Am deutlichsten war dies in der Auseinandersetzung und im Widerstand gegen den größten Sozialraub seit 1945 im Zuge der so genannten „Hartz-Reformen“ unter der Schröder-Regierung.
Solidarität? Nicht automatisch
Die Wahlen der letzten Jahre deuten auf ein weiteres Problem hin, das wir für eine Analyse des Klassenbewusstseins nicht außer Acht lassen dürfen: Ein überdurchschnittlicher Anteil von Arbeitern und Gewerkschaftern hat die rechtskonservative AfD gewählt.
Es wird einerseits vermittelt, dass es „uns doch insgesamt gut geht“ und dies mit dem Verweis auf den gesellschaftlichen Reichtum und den „niedrigen“ Arbeitslosenzahlen belegt, während gleichzeitig ein hoher Teil der erwerbstätigen Bevölkerung (20 bis 24 Prozent) beständig im Niedriglohnsektor und prekären Arbeitsverhältnissen arbeitet, das Arbeitsvolumen ungleich verteilt ist und die Schere zwischen Arm und Reich immer größer wird. Der Soziologe Klaus Dörre von der Universität Jena führte hierzu in einem Interview im Mai 2017 aus: „Diese Frage berührt eine klassenpolitische Dimension. Man darf nicht von der Vorstellung ausgehen, dass Menschen mit einer ähnlichen Klassenlage und ähnlichen Interessen automatisch solidarisch handeln. Der Normalzustand ist, dass zwischen und innerhalb von Klassen Spaltung, Fraktionierung und Konkurrenz stattfindet.“
Im Zuge der Betriebsratswahlen 2018 – angespornt von den Ergebnissen der politischen Wahlen – gab es den gemeinsamen Versuch rechts-nationalistischer Kreise (AfD, Compact, Pegida, Identitäre), zu den Betriebsratswahlen mit eigenen Listen anzutreten. Die Akteure griffen auf bekannte sozialdemagogische Argumentationsmuster zurück. Björn Höcke, Rechtsaußen der AfD, beklagt in einem Artikel unter der Überschrift „Widerstand gegen den Raubtierkapitalismus“, dass „eine kleine Geldmachtelite ihre Interessen auf Kosten der Völker“ durchsetzt. Diese Elite sind wenige „Letzteigentümer der miteinander verflochtenen internationalen Konzerne“. Wer das erkenne, nämlich die Patrioten, habe seinen wahren Gegner erkannt: Die internationalen Eliten. Hier wird Altbekanntes auf die heutigen Verhältnisse angepasst: Schuld sind gierige Manager und nicht das kapitalistische System. Zwar haben diese Kräfte bei den Betriebsratswahlen keinen Erfolg gehabt, aber das Stimmenpotenzial und die Resonanz der AfD in diesem Teil der Werktätigen ist nach wie vor vorhanden.
Unser Fokus
Die bisherigen Ausführungen zeichnen ein düsteres Bild des Klassenbewusstseins der Arbeiterklasse heute. Gemessen an den eingangs dargelegten Grundlagen kann man bestenfalls zu dem Schluss kommen, dass nur ein rudimentäres Klassenbewusstsein, und wenn, nur eines der Klasse „an sich“ vorhanden ist. Dennoch sind die gesellschaftlichen Krisenerscheinungen auf allen Ebenen spürbar und diese Unsicherheit wird von den rechten Kräften genutzt.
Daran wird auch deutlich, dass wir als Kommunisten unseren Fokus ganz massiv in Richtung der Betriebe und Gewerkschaften verschieben müssen. Eine Partei der Arbeiterklasse, eine kommunistische Partei, die ihre Verankerung in den Betrieben einbüßt, die in den Werkhallen und Büros nicht mehr präsent ist, also dort, wo der Interessengegensatz zwischen Arbeit und Kapital ausgefochten wird, wird keine Fähigkeit für die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft erringen können. Eine Partei, die nur in Bündnissen und sozialen Bewegungen aktiv ist und hier ihren Fokus legt, wird irgendwann aufhören, eine kommunistische Partei im Sinne unserer Weltanschauung zu sein.