Larissa Reissners Reportagen sind neu aufgelegt

Die Chronistin der Revolution

Larissa Reissner: Oktober. Aufzeichnungen aus Russland und Afghanistan in den 1920er Jahren. Promedia 2017, 320 S. Print: 24,- Euro. ISBN: 978–3-85371–429-4. E-Book: 19,99 Euro. ISBN: 978–3-85371–858-2.

„So eine wie Dich möchten wir so gerne haben. Eine, die liebt und hasst und in dem Papierkram das sieht, was er wirklich ist: Handwerkszeug. Du bist eine Erfüllung gewesen und eine Sehnsucht. Die Sehnsucht nach einem, der den Garten Gottes bis zu den Mistbeeten herunter durchwandert, scharf abmalt, die Gemälde voller Liebe aufhängt oder den Betrachtern um die Ohren schlägt. Einer, der Bescheid weiß und nicht damit prahlt. Einer, der aus seinem Wissen eine Waffe macht für uns und für die Millionen Stummer, deren Stimmen nicht gehört werden.“

Das klingt wie eine Liebeserklärung und es ist eine. Sie stammt von Kurt Tucholsky und gilt der russischen Schriftstellerin und Journalistin Larissa Reissner. Als Tucholsky diese Zeilen schrieb, war die Adressatin schon an der Tuberkulose gestorben, erst 30-jährig. Was sie in ihre Jahre gepackt hat als Revolutionärin, Kommissarin der Roten Flotte, Kundschafterin, das hat sie in bildreicher Sprache in ihren Reportagen aus dem Bürgerkrieg, aus Afghanistan und den Fabriken im Ural beschrieben.

Der Promedia Verlag hat diese Berichte mit dem Titel „Oktober“ neu herausgebracht. Reissners Stil ist mit dem folgenden Auszug besser umrissen als durch eine herkömmliche Rezension.

Man gab mir Mantel, Hosen Stiefel, führte zwei Kavalleriepferde vor, aber, mein Gott, wie soll man sich auf dieses wilde Biest setzen? Von rechts oder von links, und was macht man dann mit den Beinen und mit den nicht ohne boshafte Absicht angeschraubten angeschraubten mächtigen Sporen? Wir reiten im Schritt, es geht. Dann im Trab – Angst und Schrecken. Und wir haben vierzig Kilometer vor uns.

Am ersten Tage meiner Bekanntschaft mit dem roten Fuchs begann unsere zärtliche Freundschaft, die im ganzen drei Jahre dauerte. Weit hinter der Wolga, dicht am Eisenbahndamm, wird das Pferd plötzlich unruhig. Ich gebe ihm einen Schlag mit der Gerte: die nervösen Ohren zittern, das heiße Auge schielt mich an – es geht nicht vom Fleck. Auch die uns begleitenden Kavalleristen machen halt und lachen mich aus. Und plötzlich erheben sich unmittelbar vor uns nacheinander drei Säulen aus dem Boden, drei staubige rote Donnerschläge: drei Tote. Wir bogen in den Wald ein.

Es gab hier viele verwundete Bäume, mit einem sonderbar kreischenden Geräusch fielen die Geschosse ins Dickicht.

Die Bäume stehen still da, wie zum Tode verurteilt, erstaunlich still und gerade. Und ebenso still liegen die Menschen auf einer kleinen Waldwiese unter roten, duftenden Fichten. Die Soldaten und zwei Kommandeure neben ihrer verstummten, lauernden Batterie. Sie waren gerade beim Mittagessen. Im glutheißen Rasen dampften die Suppenschüsseln, zwei und drei Menschen zugleich aßen aus einer Schüssel. Sie fragten uns, aus irgendeinem Grunde flüsternd, als fürchteten sie sich, die kleine Wildwiese zu verraten, nach unseren Passierscheinen und boten uns dann an, an ihrem Mittagmahl teilzunehmen. Es ging ein komischer Geruch von ihrer Suppe aus: sie roch nach Kohlbrühe und Walderdbeeren, die allenthalben zwischen dem dünnen trockenen Lanzengras hervorleuchteten. In der Stille, als irgendwo draußen, weit hinterm Walde, ein schwarz verräucherter und fast tauber Artillerist mit Hilfe einiger Zahlen und seines tierischen Instinkts unseren dunkel geahnten Zufluchtsort suchte – in der Zwischenpause, als die an ihren Fleck gefesselten Fichten Atem holten –, hörte man irgendwo in unserer nächsten Nähe das unschlüssige Trillern eines Waldvogels. Es wird wohl eine Meise gewesen sein. Ein Triller, ein zweiter, und es wird wieder still. Die Soldaten hören auf zu essen und horchen aufmerksam in den Wald. Der eine setzt eine geschäftig rennende Ameise auf seinen Löffel und betrachtet sie mit schwerer, konzentrierter Aufmerksamkeit. Und alle fühlen sich leichter, als wieder ein unsichtbares Geschoss heulend über unsere Köpfe streicht und im Dickicht krepiert, weiße, harzige Späne der zerschmetterten Fichten um sich sprühend. Nicht erwischt, vorbei – und alle Löffel sind wieder in der Suppe.

Wir reiten weiter durch den verzauberten, toten Wald, bis am Waldsaum große verlassene Sommervillen auftauchen. Hinter den Häusern liegt der Eisenbahndamm – er sieht seltsam aus. Einzelne Waggons stehen zu zweit, zu dritt, weit voneinander entfernt, als ob sie miteinander „Zauberer“ spielten, als wenn man sich nur abzuwenden brauchte, damit sie wieder weiterlaufen, um dann, beim ersten Blick, den man ihnen zuwirft, wieder wie überrascht in ungeschickten Stellungen stehenzubleiben. Hier und da liegen tote Pferde, und dieser ganze öde, verlassene Ort wird nur von Zeit zu Zeit von einfallenden Geschossen belebt.

Der Stab ist in nächster Nähe, in einer Villa an der Bahnstation. Ungefähr eine Stunde, nachdem wir sie verließen, fand ihn endlich eine entfernt liegende Batterie: einer unserer besten Kommandeure, Genosse Judin, kam dabei ums Leben. Aber als wir dort waren, kurz vorher, lebte er noch, hat uns selbst empfangen. Und in den letzten Stunden seines gesteigert pulsierenden, bis zum Platzen gespannten Lebens füllten wir einige rasche, sachlich-herbe Minuten aus. Er prüfte unsere Papiere, ließ sie vor sich auf dem Tisch liegen, ließ uns Essen und Betten geben. Und während wir uns erholten und Tee tranken, rief im Nebenzimmer (diese Sommerhäuser sind leicht gebaut) jemand telefonisch den revolutionären Kriegsrat in Swijaschsk an:

„Kennen Sie eine Reissner? … Ja, Reissner? Sie haben ihr den Passierschein gegeben? Ja? Es ist gut … Ja, wir dachten … Na ja … bleiben Sie gesund! Schluss.“

Der Mensch, der in irgendwelchen Geschäften in eine Bank gerät, fühlt sich anfangs immer als Dieb. Gitter, einbruchsichere Sehränke, dicke Kassenbücher, tadellos gebohnertes Parkett – diese ganze vergitterte Höflichkeit schnappender Schlösser vermutet in jedem Besucher einen Einbrecher und Gauner. Und in dem Augenblick, als das Telefon sich über eine gewisse R. erkundigte, kam mir auf einmal in den Sinn, dass mein ganzes Benehmen verteufelt unglaubwürdig und das Äußere verdächtig sein müsse. Der Teufel hol‘s, und die Stimme? Ich sagte laut vor mich hin: „Ich gehe nach Kasan mit einem geheimen Auftrage“ – eine fremde, falsche Stimme, es ist doch klar: eine Spionin.

In der Abenddämmerung kam Genosse Judin zu uns ins Zimmer. Sein Gesicht war fast gar nicht zu sehen, aber die ganze Gestalt – die groben weiten Gallifethosen, die Sporen, die gelassen in den Taschen ruhenden Hände – machte einen freundschaftlichen Eindruck. Nachdem er uns noch ein wenig ausgefragt, riet er uns, die Reise sofort fortzusetzen, wenn wir nun einmal ein so verzweifelt dummes Unternehmen begonnen hätten. „Leben Sie wohl, ich hoffe, wir sehen uns noch.“ Er drückte uns fest die Hand und mochte sich dabei gedacht haben, dass wir diesen Wald wohl kaum lebendig verlassen würden. Der hinter seinem Rücken stehende Tod lächelte zynisch in die Finsternis hinein.

Ich prüfte trübselig meine riesigen Stiefel und Hosen und bemerkte dabei, dass auch der Rotarmist, der uns den Tee brachte, mein Äußeres nicht minder interessiert betrachtete: „Genosse Madame, lass uns tauschen: du gibst mir deine Montur und ich dir richtige Frauenkleidung – mit Falten und Federn.“

Und er brachte von irgendwoher, von dem Dachboden wahrscheimlich, ein elegantes Pariser Korsett, tadellose Hosen eines Kammerherrn und, zu meinem Glück, ein dunkles Damcnkostüm. Das Gold des Kammerherrnrocks funkelte bald auf dem mageren Gesäß eines Botenjungen, das rosafarbene Korsett gefiel einem Rotarmisten so sehr, dass er es anprobierte, während Mischka und ich aus dieser Maskerade als dermaßen anständige Bourgeois hervorkamen, dass schon der nächste Wachtposten uns trotz aller Parolen, Dokumente und Passierscheine glattweg verhaftete. Der wütende Mischka wurde unter Begleitung zurück zum Stab befördert, und als er endlich wieder da war, war es schon ganz finster geworden. Zum Abschied gab uns der Posten einen guten Rat: dem Eisenbahndamm sorgfältig fernzubleiben und den Weg durch den Wald zu nehmen. „Hier aber“ – die Schienen leuchteten unangenehm aus der Dunkelheit – „wird man euch im Handumdrehen niederknallen.“

Einige Stunden stillen Waldwegs. Wir begegneten unterwegs einer Patrouille – zwei Kavalleristen. Im Dunkeln jagten wir einander einen großen Schreck ein.

Wir unterhielten uns ein wenig, genossen die Wärme des menschlichen Gespräches, dann ging es weiter.

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"Die Chronistin der Revolution", UZ vom 1. Dezember 2017



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