Das Geschenk des Suhrkamp-Verlages zum 90. Geburtstag des Georg-Büchner-Preisträgers Jürgen Becker ist umfangreich: Beckers „Gesammelte Gedichte“, 1971–2022 erschienen – 1.120 Seiten, insgesamt 17 Bände –, werden begleitet von Bildern und Collagen von Rango Bohne, Beckers 2021 verstorbener Frau, und von Fotos des Sohnes Boris Becker.
Es ist ein Dokument eines arbeitsreichen Dichterlebens, eines Lebens mit unerbittlichen Wiederholungen, in denen auch ruhige Zeiten noch von Zerstörung geprägt wurden und der Traum zum „Ausweichmanöver der Ängste“ wurde. Die Gedichte beschreiben das Leben des Dichters in seiner Zeit, scheinbar ohne einschneidende private Veränderungen, auffallende persönliche Entwicklungen, Erschütterungen und Tiefpunkte, aber durch Krieg, Flucht und „Feldpost“, wo „die Front bis zuletzt hielt“ („Dorfrand mit Tankstelle“, 2007), geprägt. Dadurch haben sich Beckers poetische Landschaften und seine lyrischen Bildwelten gefährlich aufgeladen und sind völlig gegenwärtig. Sogar die fallenden Äpfel im Herbst werden zu „Bomben des Oktober“ („Radio im Geländewagen“). Dafür hat Liebe in Beckers Dichtungen wenig Raum.
Krieg ist in Beckers Leben die herrschende Bedrohung, Krieg ist auch als Erinnerung vernichtend. Einzelheiten wie „Tieffliegerangriff“ werden mehrfach erinnert, um Vorgänge der Gegenwart richtig zu bewerten und heutigen Kriegen begegnen zu können. Krieg zu verhindern oder zu beenden ist sinnvolles Leben; „Die Frühnachrichten warnen vorm Chaos, das/längst in vollem Gange ist; die schweren Waffen bleiben liegen“ hieß es im „Journal der Wiederholungen“ (1999). Die „schweren Waffen“ am Ende des Krieges, der Becker prägte, waren die Atombomben. Wer ruft mit dieser Kenntnis nach neuen „schweren Waffen“? Auch bei anderem wurde Becker zum Propheten: 1988 erschien das „Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“, Becker kannte beide Teile Deutschlands und entwarf das spannungsreiche Bild einer Vereinigung noch ehe sie eintrat. Die Aktualität dieses eindringlichen Dichters ist aus seiner unerbittlichen Beschreibung von Alltäglichem entstanden. Ein aus dieser Haltung besonders beeindruckendes Gedicht – „Ausstellung mit Zitaten von Albrecht Fabri“, der (1911 – 1998) ein Gegenteil zu Becker war – beginnt so genau wie gespenstisch: „Winter 41. Liegengeblieben vor Moskau.“ Und weiter: „Im Winter damals wussten wir nichts von der Art,/wie Erinnerung entsteht.“ Diese Erinnerung ist lebendig geblieben, weitere Menschen möchten sie nutzen: „Draußen im Kalten wollen noch mehr Leute herein,/und sie finden den Lichtschalter nicht.“ Die Daten sind „März 45“ oder „April 45“; es sind Daten am Ende des Weltkrieges, der in Beckers Gedichten gegenwärtig ist. Die Erinnerungen vor Moskau sind nötig, um die Gegenwart beurteilen zu können.
Beckers Gedichte sind – scheinbar – sprachlich schlicht; man meint, sie wollten keine Poesie sein, sondern informieren. Beckers Begriff „Journalismusgedichte“ ist treffend. Als besonderes Mittel dafür nutzen sie „Fenster“, ein zentraler Begriff dieser Dichtung, aber auch „Foto“ oder – bei älterem Material – „Photo“. Zusätzlich verweisen die Gedichte lapidar und fast beiläufig auf Dichter und Künstler – Böll, Proust oder Eich, auch „Hölderlin, Rilke, Ernst Jünger“ –, deren Erfahrungen vergleichbar werden, ohne dass sich um Jürgen Becker ein künstlerisches Ensemble bilden ließe. Felix Hartlaub und sein Kriegstagebuch spielen eine Rolle, der Maler Paul Klee weist auf Neigung hin; Bach wird immer wieder genannt.
Becker suchte Partner in seinem Denken wie Ingeborg Bachmann. Aber als Dichter ist er eine Ausnahme. Seine Gedichte streben nach Klang und nutzen bekannte Versatzstücke; doch wenn sie sich dem abrufbaren Vers, einer erinnerten Harmonie nähern, schlagen sie in das Gegenteil um: Aus Hölderlins „Was bleibet aber stiften die Dichter“ wird „Was bleibet, stiftet der Witz“ oder die Anspielungen kippen ins Profane und ersetzen Schönheit durch Härte: „Vom hellen Strand der Saale“ weist auf ein bekanntes Lied hin – vermittelt auch noch eine entsprechende Erwartungshaltung – „kamen die ersten Ansichtskarten“ –, um dann schroff fortzufahren: „die Stellung um Leuna herum“, erinnernd an Technik, Kampfmittel, Chemiewaffen und Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg. Namen werden angefügt, die Vergangenheit und Gegenwart in Beziehung setzen: Senftleben und Ilse Werner, der Fußballtorwart, aber so hießen auch Widerstandskämpfer, und die Unterhaltungskünstlerin, lebend bis in unsere Gegenwart. Jeder Begriff ruft nach Erweiterung, Ergänzung und Klärung, manchmal klingt ein ironischer Unterton an, unaufdringlich. Dass in Beckers Figurenensemble Sisyphus gegenwärtig ist, ist in diesem Umfeld selbstverständlich. Melancholie, Resignation, Entsagen, Trauer über die Unfähigkeit der „Leute“, die nicht Menschen werden und wenig verändern wollen, klingt an: „Wirklich/es wimmelte von Möglichkeiten, die das Spiel/hätten umdrehen können: nur drehten die Leute nicht mit,/auf die es ankam. Die Alten sprechen von Damals, und/es sind auch immer dieselben Namen.“ („Der Garten im Februar“) Es wird „aus dem Jammertal“ gegrüßt, in dem viel gespeichert ist, doch „nichts fertig“ wird, selbst der Schriftsteller „kritzelt um den Abgrund herum“ („Gedicht mit Wörtern“). Das umfangreiche Werk Beckers, neben der umfangreichen Lyrik auch Prosa, Hörspiele, Dokumentationen, Kunstbücher, ist zu einer überraschenden Einheit geworden im Kampf gegen das Vergessen:
Die Prosa ist rhythmisch strukturiert, die Lyrik von epischer Breite; die Grenzen zwischen beiden sind fließend und oft verbinden sich die Gattungen. Über allem herrscht eine Einheitlichkeit, die aus Betrachtung kommt. Beckers Werk muss man lesen und betrachten, denn es verdichtet sich zu Bildern. Fenster und Rahmen sind bevorzugte Begriffe, man sieht hinaus und erfasst den visuellen und historischen Augenblick mit dem Wort. Dazu gehören Bilder, aus denen Menschen schauen. Bewegung ist für ihn interessant; das Fenster ist ein Weg in die Wirklichkeit. Fenster sind auf Illustrationen zu sehen, „Bilder“ hieß auch ein Hörspiel Beckers (1969).
Das Gesamtwerk Jürgen Beckers, geboren 1932, Mitglied der Gruppe 47, ist eine Dokumentation von Zeit und Generation, der prägenden Ereignisse und ihrer Wiederholung bis heute. Seine politischen Bekenntnisse sind die gründliche Beschreibung der Zeit, die er durchlebt hat. Wenn ein Bruchteil verstanden und angenommen würde, wäre das Vermächtnis sinnvoll für die Menschen und nicht nur ein monumentales Werk, das die Leute bestaunen. Lutz Seiler, geboren 1963, der seiner Generation eine ähnliche Dokumentation zu schreiben begonnen hat, hielt anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises an Jürgen Becker 2014 die Laudatio und verglich sich mit ihm. Er stellte als ein Verdienst des Dichters aus, dass er „ein konkretes literarisches Verzeichnis der aussterbenden Anlässe“ geschrieben habe. Dazu zählte Seiler „Orte wie Gelegenheiten“, „im Treppenhaus, am Zaun, im Hof, am Schlagbaum, im Stall, auf dem Bahnsteig voller Flüchtlinge“. Seilers Beschreibung der „aussterbenden Anlässe“ war verfrüht und Beckers Gedichte sind weiterhin gegenwärtig, erinnernd und warnend.
Jürgen Becker:
Gesammelte Gedichte 1971 – 2022.
Mit Bildern und Collagen von Rango Bohne und Fotos von Boris Becker.
Suhrkamp Verlag, 1.120 S., 78,- Euro