Turbulente Tage in Frankreich: Die „Rentenreform“ ist beschlossen, die Regierung bleibt im Amt, der Kampf der Gewerkschaften geht weiter. Das ist die knappe Zusammenfassung der neuesten Entwicklungen im Abwehrkampf der französischen Beschäftigten gegen den Versuch von Staatspräsident Emmanuel Macron, das Rentensystem zu ihren Ungunsten zu deformieren.
94 Prozent der Beschäftigten des Landes sind gegen die „Reform“ und das haben sie in den letzten Monaten deutlich gezeigt. Seit 30 Jahren hat Frankreich keine so große, so mächtige Streikbewegung mehr gesehen wie die heutige. Ihr Widerstand hat verhindert, dass Macron seiner „Reform“ den Anstrich demokratischer Legitimation verpassen konnte. Die hatte zwar den Senat passiert (siehe UZ vom 17. März) und am 15. März auch den Vermittlungsausschuss zwischen den beiden Kammern des französischen Parlaments. Aus Angst, sein Angriff auf die Rente könne in der Nationalversammlung scheitern, ließ Macron seine Premierministerin Élisabeth Borne die Sitzung unmittelbar nach Eröffnung wieder schließen. Borne erließ die „Rentenreform“ stattdessen per Dekret, mittels Artikel 49.3 der französischen Verfassung. „Wenn jeder nach seinem Gewissen und im Einklang mit früheren Positionen abstimmen würde, wären wir heute Nachmittag nicht in dieser Situation“, erklärte sie ihre Missachtung des Parlaments.
Der Rückgriff auf Artikel 49.3 sei das Eingeständnis, dass Macrons Projekt keine Mehrheit in der Nationalversammlung finde, teilte die Französische Kommunistische Partei (PCF) keine Stunde später in einer Pressemitteilung mit. Er sei außerdem unrechtmäßig, ursprünglich sei Artikel 49.3 nämlich dazu gedacht, Haushaltsgesetze zu verabschieden. „Heute wird er benutzt, um unserem Volk einen wahren antisozialen Gewaltstreich aufzuzwingen.“
Ähnlich reagierten die Gewerkschaftsverbände, die schon länger davor gewarnt hatten, Macron könne seine „Reform“ per Dekret durchdrücken. „Während der gesamten Beratungen über den Gesetzestext hat sich die Regierung für den Weg der Gewalt entschieden: beschleunigte Verfahren, Weigerung, über Änderungsanträge abzustimmen, Druck auf Abgeordnete oder Fraktionen, Zugeständnisse an die Rechte“, analysierte der Gewerkschaftsverband CGT. Der entschlossene Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie der Jugend habe eine parlamentarische Mehrheit für den Angriff auf die Rente verhindert. „Die einzige Antwort der Regierung und der Arbeitgeber ist Repression: gesetzlicher Arbeitszwang für Streikende, Polizeieinsätze bei Arbeitsplatzbesetzungen, Verhaftungen, Einschüchterungen, Infragestellung des Streikrechts.“
Mindestens 6.000 Menschen versammelten sich nach Polizeiangaben spontan auf dem Place de la Concorde in Paris, nachdem das Dekret der Regierung bekannt geworden war. Sie forderten den sofortigen Rücktritt der Regierung und die Beerdigung des „Reformprojekts“. Die Polizei ging mit Wasserwerfern gegen die Demonstranten vor und nahm 310 von ihnen vorübergehend fest. Die CGT verurteilte die Gewalt gegen friedliche Demonstranten scharf. Zu Protesten kam es auch in Bordeaux, Grenoble, Lyon und weiteren Städten.
Wenn die Regierung Artikel 49.3 nutzt, darf die Opposition einen Misstrauensantrag, verbunden mit einer Abstimmung über das Gesetzesvorhaben, stellen. Mehrere Parteien machten davon Gebrauch, darunter Rassemblement National (RN, früher Front National) und La France Insoumise (LFI). Die Partei von Jean-Luc Mélenchon zog ihren Antrag zugunsten eines fraktionsübergreifenden Misstrauensantrags zurück. Dem fehlten bei der Abstimmung am Montag lediglich neun Stimmen für die notwendige absolute Mehrheit. Der RN-Antrag scheiterte wesentlich deutlicher. Die parlamentarischen Mittel gegen Macrons Angriff auf die Rente sind damit erschöpft. Mehrere Oppositionsparteien kündigten Verfassungsklagen an.
Die Gewerkschaftsverbände erklärten unisono, ihre Streiks fortführen zu wollen – in ganz Frankreich, immer lauter, bis die „Reform“ Geschichte ist. Der nächste Aktionstag ist für diesen Donnerstag angesetzt.