Zur Sammlung „Für alle reicht es nicht – Texte zum Kapitalismus“ von Heiner Müller

Die blutigen Szenarien

Von Rüdiger Bernhardt

Heiner Müller

Für alle reicht es nicht

Texte zum Kapitalismus

hrsg. von Helen Müller und Clemens Pornschlegel in Zusammenarbeit mit Brigitte Maria Mayer.

Berlin. Suhrkamp Verlag 2017

(edition suhrkamp 2711)

389 S., 16.- Euro

Kürzlich war im Vorwort einer wissenschaftlichen Abhandlung zur Literatur der DDR zu lesen, dass „selbst ein Dramatiker von Weltrang wie Heiner Müller“, aber auch Günter de Bruyn, Volker Braun und Christoph Hein „nur noch Kennern geläufig“ seien. Das einstige „Sammelgebiet DDR-Literatur“ sei „rasch ins Abseits geraten“, so Wolfgang Emmerich. Da konnte man sich nur verwundert die Augen reiben, nicht nur über das abfällig klingende „Sammelgebiet“: Hein wird im Unterricht behandelt, Volker Brauns Bücher sind viel gelesen und er publiziert erfolgreich weiter Buch um Buch, ebenso Günter de Bruyn, der zudem noch seine Opposition zur DDR für zusätzliche Gunst in der bürgerlichen Öffentlichkeit nutzt. Und Heiner Müller? Es erschien nicht nur eine repräsentative und erfolgreiche Gesamtausgabe seiner Werke in 12 Bänden (2008), eine vielfach besprochene Biografie (2001) von Jan-Christoph Hauschild, ein Handbuch zu Leben und Werk (2003), auch sein Werk blieb präsent. Die Internationale Heiner-Müller-Gesellschaft erinnerte am 24. Juni mit einem Fest an das zwanzigjährige Bestehen. Gegenwärtig sind auf Bühnen zu finden „Mauser“ in München und Zürich, „Quartett“ – insgesamt oft gespielt – in London, „Philoktet“ in Wien, „Der Horatier“ in Berlin usw. Wie man da davon sprechen kann, Heiner Müller sei nur noch Kennern bekannt, ist ein Rätsel. Man kann sich des Verdachtes nicht erwehren, der Wunsch, es möge so sein, war der Vater des Gedankens, zumal dieser Gedanke Wolfgang Emmerichs Schriften seit der Wende durchzieht.

Nun bekam Heiner Müllers Wirkung 22 Jahre nach dem Tod des Dichters eine zusätzliche Grundlage. In der edition suhrkamp (Nr. 2711) erschienen „Texte zum Kapitalismus“ unter dem Titel „Für alle reicht es nicht“. Alle Gattungen trugen zu der Sammlung bei, auch Interviews und Diskussionsbeiträge. Gegliedert wurden die Texte in fünf Abschnitte: Kapitalismus und Kapitalismuskritik, Ekel, Sprache, Religion und Krieg.

Heiner Müller: „Wenn in der nächsten Woche die Regierung zurücktreten sollte, darf auf Demonstrationen getanzt werden“.  4.11.1989, Berlin-Alexanderplatz

Heiner Müller: „Wenn in der nächsten Woche die Regierung zurücktreten sollte, darf auf Demonstrationen getanzt werden“. 4.11.1989, Berlin-Alexanderplatz

( Bundesarchiv / Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE)

Kapitalismus war für Müller Teil der Vorgeschichte der Menschheit, die durch Vernichtung, blutige Auseinandersetzungen, Kriege und Verbrechen geprägt ist. Sie wird erst abgeschlossen sein, wenn die Vorgeschichte in die Geschichte der Menschheit, den Kommunismus, übergeht. So haben interessierte Leser die Möglichkeit, Müllers kapitalismuskritische Aussagen zur Kenntnis zu nehmen. Müllers Texte gehen, wo auch immer man den geschichtlichen Zusammenhang sucht, auf die zerstörerischen Auseinandersetzungen ein, die die bisherige Entwicklung der Menschheit bestimmten. Er setzte hier konsequent die Themen und Ideen Georg Büchners um, als dessen geistiger Nachfolger er verstanden werden kann.

Müllers Radikalität des Denkens machte ihn für viele Menschen unbequem, aber seine Radikalität war die Konsequenz seines Denkens. Sie nahm nach 1990 nochmals zu, als Müller vom Kapitalismus wieder eingeholt wurde, den er glaubte, hinter sich gelassen zu haben. Er machte kein Hehl daraus, dass er an den Sieg des Kommunismus glaubte, aber dass der Weg dorthin ein langer und schwieriger sein würde. Seine Verse „Der Kommunismus sogar, das Endbild, das immer erfrischte/Weil mit Blut gewaschen wieder und wieder, der Alltag/Zahlt ihn aus mit kleiner Münze…“ (1955) haben diese Überzeugung verdichtet. Es war ein zentraler Satz seines Denkens und Dichtens, der vielfach variiert wurde, immer mit der Überzeugung, dass der Kapitalismus nicht im Selbstlauf oder durch Ermüdung verschwinden werde, sondern dass es dazu großer Anstrengungen bedarf. Die Verse finden sich auch in vorliegender Auswahl (Seite156), sie machen auf ein Problem aufmerksam, dem sich der Leser gegenübersieht: Die Texte zum Kapitalismus sind aus einer antikapitalistischen Haltung entstanden, kaum einer war unter den künstlerischen Intellektuellen derart konsequent Gegner des Kapitalismus wie Heiner Müller. Das aber heißt zuerst, dass alle Texte ursprünglich Texte für den Kommunismus waren und sind. Dieser Zusammenhang muss vom Leser eingebracht werden, denn die Kommentare sind gegenüber dieser Tatsache zurückhaltend. Mindestens im Vorwort wünschte man sich, dass vor der Einschätzung des Kapitalismus – „Das Lebensprinzip des Kapitalismus ist gerade nicht die Befriedigung der sogenannten Bedürfnisse“ – Müllers Vorstellungen vom Kommunismus Platz gefunden hätten. Das wäre wichtig gewesen, zumal sich die Herausgeber einig sind, dass nach 1990 eine weitere, noch intensivere Epoche der kapitalistischen Krisengeschichte und Ausbeutung begonnen hat, die charakterisiert ist durch Zunahme von „Arbeitslosigkeit, Armut, Kriege, soziale und politische Gewalt; die Beschäftigungsverhältnisse sind in einem bisher ungeahnten Ausmaß prekär geworden“. Berechtigt wird darauf hingewiesen, dass Müller keine systematische Theorie des Kapitalismus formuliert hat, zumal er in erster Linie Dramatiker und nicht Philosoph war.

Der Leser muss auch ein weiteres Problem für sich lösen, wobei ihm die Essays, die bis ins Sprachliche von Müller inspiriert wurden und die die einzelnen Abschnitte einleiten, kaum helfen. Nach Heiner Müller bestand die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft aus zwei Abschnitten, der Vorgeschichte, die vom Ende des Sozialismus bis zur Eiszeit zurückreicht, und die eigentliche Geschichte, die mit dem Kommunismus beginnt und die die Zukunft bestimmt. Sozialismus wäre in dieser Abfolge ein Zwischenstadium; damit erklärte sich vieles an Behelfslösungen, Ungereimtheiten, Experimenten, Zwängen usw. Damit würde auch die Distanz verständlich, mit der die DDR-Politik Heiner Müller begegnete. In diesen großen Zeitraum gehören nach Müller auch die früheren Gesellschaftsformationen wie der Antike. Der Leser findet in den ausgewählten Texten Namen wie Ajax, Lysistrate, Prometheus, Herakles, Medea, die Argonauten und viele andere antike Gestalten. Gemeinhin wird der Belesene sie in das vorgeprägte Bild klassischer Vollkommenheit einordnen. Nicht so bei Müller: Für ihn war auch die Antike nicht die Zeit vollkommener Schönheit und Humanität, wie sie seit Winckelmann und Goethe vermittelt wurde, sondern eine Zeit anhaltender Verbrechen. In seinem „Elektratext“ (1969), der nicht in die Auswahl aufgenommen wurde, enthüllt er die antiken Götter- und Heldenmythen als antagonistische Machtkämpfe: Was uns in der deutschen Klassik in Gestalt Iphigenies – an Goethe ist zu denken – als die Inkarnation des Humanismus entgegentritt, erscheint bei Müller als Kampf: „Zum ersten Kriegsopfer bestimmt ein Seherspruch Iphigenie …“, dann wird erschlagen, getötet, geschlachtet, Beil und Schwert sind die begehrtesten Handwerkszeuge. Raub auf allen Ebenen ist die politische Triebkraft, auch in der Antike. Vom Humanismus der Iphigenie Goethes ist nichts zu spüren.

Fragt man nach den Konturen für Müllers Vorstellung vom Kommunismus, so findet der aufmerksame Leser auch die, die deutlicher als das entscheidende Ziel ausgewiesen worden wären und Lenin zu ihrem Urheber haben. Nach Lenin war, und so verstand es Müller, der Kommunismus „das Ursprüngliche“ und „die Möglichkeit“ (Seite 261): „Der Kommunismus beginnt dort, wo einfache Arbeiter in selbstloser Weise, harte Arbeit bewältigend, sich Sorgen machen um die Erhöhung der Arbeitsproduktivität, um den Schutz eines jeden Puds Getreide, Kohle, Eisen ….“(114). Das steht in Heiner Müllers Stück „Traktor“.

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"Die blutigen Szenarien", UZ vom 14. Juli 2017



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