Lucia Berlin: Was wirst du tun, wenn du gehst, Arche 2017, 176 S., 19 Euro (eBook: 14,99 Euro)
Noch vor einem Jahr war Lucia Berlin im deutschen Sprachraum ein Name ohne Hintergrund. Aber selbst im englischen Sprachraum entfachte erst der 2015 erschienene Auswahlband „A Manual for Cleaning Women“ (Farrar, Straus & Giroux, New York) das Feuer für eine Schriftstellerin, die wie kaum eine zweite Widersprüche ohne Versöhnlerei widerspiegelt.
1936 in Alaska geboren, zog die Familie über mehrere Stationen im Süden der USA, nach El Paso (Mexiko) und später Santiago de Chile. Ihr Vater gelangt dort als Bergbauingenieur zu Reichtum. Der Großvater missbraucht die Enkelinnen. Später arbeitet sie unter anderem in einer Abtreibungsklinik, als Putzkraft und Lehrerin, hat vier Söhne, ist mit einem heroinabhängigen Musiker verheiratet, heiratet insgesamt drei Mal, leidet, seit sie zehn ist, an Skoliose, ist lange alleinerziehend, arm und zudem alkoholkrank. Ihre krebskranke Schwester pflegt Berlin in den 90ern bis zu ihrem Tod. 2004 stirbt sie. Eine außergewöhnliche Biografie.
Ihr Schreiben nährt sich daran: „Albern, wer da weint“ etwa erzählt von zwei Schwestern in Mexikos Hauptstadt, eine krebskrank und glücklich, weil frisch verliebt. Die andere versorgt sie und sieht dabei dem Ende ihrer eigenen Beziehung entgegen.
„Ich habe schon geschrieben wie er, bevor ich überhaupt etwas von ihm gelesen hatte. […] Unser beider ‚Stil‘ beruhte auf unserem (auf gewisse Weise ähnlichen) Hintergrund. Keine Gefühle zeigen. Nicht weinen. Lass niemanden an dich ran.“ Das schreibt Lucia Berlin an den Lyriker August Kleinzahler. Mit „er“ meint sie Raymond Carver („What We Talk About When We Talk About Love“, 1981), dessen spartanische Interpretationen der Prosagattung Short Story zum Maßstab für jene Gattung wurde.
In zwei Punkten irrt da Berlin, die erst posthum zu breitem Ansehen gelangte: Sie schreibt nicht wie Carver, sie schreibt besser, tiefer. Und: Auch wenn ihre Texte leicht an ihr Leben anlegbar sind, findet sie doch darin stets Wege, sich aus den festen Klammern des biografischen „Hintergrunds“ zu winden, ohne dem Stoff fremd zu werden.
Berlin hinterlässt Korrespondenzen und gut siebzig Kurzgeschichten, die sie an verschiedensten Stellen publiziert hatte. 43 von ihnen wurden 2015 zum Erfolg, ehe das „Literarische Quartett“ (ZDF) den ersten deutschen Übersetzungsband, „Was ich sonst noch verpasst habe“, mit Lob adelte.
Der enthielt aber nur dreißig Storys. Während also Kiepenheuer & Witsch kürzlich den ersten Band als Taschenbuch aufgelegt hat, entspricht der Schweizer Arche-Verlag der Nachfrage und veröffentlicht mit „Was wirst du tun, wenn du gehst“ die dreizehn noch fehlenden Geschichten.
Die Bände brauchen einander. Genauso wie die Storys verwoben sind. Figuren tauchen immer wieder auf, auch manchmal unter fremden Namen. Orte in Süd- und Mittelamerika und den US-Südstaaten wiederholen sich.
Berlin schreibt virtuos, gestochen und ohne sich selbst in die Enge zu treiben. Sie ist großzügig aussparend, Plotbögen innovierend, nie karg, nie lückenhaft an Stellen, wo es etwas zu sagen gibt. Die Story „Bis später“ endet so: „Wir lachen leise, in ihrem Zimmer, zeichnen. Im Grunde ist die Liebe für mich kein Rätsel mehr. Max ruft an und sagt Hallo. Ich sage ihm, dass meine Schwester bald tot sein wird. Wie geht es dir?, fragt er.“
Berlin spricht die großen Schicksale auf zwei Arten an: Entweder beiläufig, dann tut sie es direkt und kitschlos. Oder sie gräbt sich in Menschen ein. In solche, die die Gleichzeitigkeit von Glück, Beständigkeit und Misere erfahren.
Berlins Beziehungskisten sind harmoniefrei, aber nie zu fatalistisch, dass sie die Menschen zu kleinen Wesen reduzieren, die Ohnmacht und verordneter Monogamie anheimfallen. Ihre Beziehungen sind nicht die Beziehungen in den Geschichten Judith Hermanns („Nichts als Gespenster“, S. Fischer 2003).
Und Berlins Tragik ist keine bloß tragische, sondern mit Humor versetzt. In „Melina“ beißen sich Patriarchat und prüde Aufklärungsfeindschaft so: „Er sagte, dass er sie liebe. ‚Ich will dich‘, sagte er. Ich hole den Toilettenschlüssel. Komm. Es dauert nur fünf Minuten.‘ Melina sah ihn an und sagte: ‚Ich komme gleich.‘
Ich war damals ziemlich jung. Das war das Romantischste, was ich je gehört hatte.“
„Was wirst du tun, wenn du gehst“ ist keine Resteverwertung, die nur irgendwie arrangiert wurde. Thematisch gehen die Storys selbstreflexiver auf das Schreiben ein. Als Briefe („Liebe Conchi“), Meta-Essay-Erzählung („Eine Frage der Perspektive“), oder stofflich, wenn sich in „Hier ist es Samstag“ InsassInnen aus einem Frauen- und einem Männerknast zu einem Schreibseminar treffen und sich Schreibschüler und –dozentin über Wirkung und Funktion der Schreib-Hausaufgabe streiten: „Die Geschichte ist beschissen. Sie war beschissen, als ich sie zum ersten Mal irgendwo las. Ich kannte meinen Vater nicht. Ich dachte mir, das ist der Scheiß, den Sie von uns wollen. Wette, Sie haben sich vollgepisst darüber, wie Sie uns unglücklichen Opfern der Gesellschaft dabei helfen, mit unseren Gefühlen in Kontakt zu kommen.“ Darauf Seminarleiterin Mrs. Bevins: „Ich scheiß auf Ihre Gefühle. Ich bin hier, um Schreiben zu unterrichten. Tatsache ist, dass man lügen kann und trotzdem die Wahrheit sagt. Diese Geschichte ist gut, und sie klingt wahr, egal, wie sie entstanden ist.“
Lucia Berlins Geschichten sind keine Abbitten oder Therapien. Sie sind „Manuals“ (dt.: Handbücher), um die zersplitterte Welt fassbar zu machen, indem sie auf Fallhöhen verweisen und Tragweiten andeuten. Auch wenn der Titel des Bandes das Fragezeichen ausspart, findet sich eine Antwort in der Story „Lass mich dein Lächeln sehen“ über die destruktive Liebe zweier Trunksüchtiger, genauer: eines Achtzehnjährigen und seiner Lehrerin. Auf die Frage „Was wirst du tun, wenn du gehst?“, antwortet er: „Ich? Sterben.“