Jüdische Stimmen der Vernunft aus Israel, Deutschland und den USA zur Gewalteskalation im Nahen Osten

Die Besatzung ist die Ursache der Gewalt

In Deutschland soll die bedingungslose Solidarität mit Israel trotz des barbarischen Krieges gegen die Menschen in Gaza „Bürgerpflicht“ sein. Bundespräsident Walter Steinmeier forderte die Bevölkerung auf einer Kundgebung „Gegen Antisemitismus und für Solidarität mit Israel“ am vergangenen Samstag in Berlin auf, „diese Bürgerpflicht auch anzunehmen“. Das bedeutet offenbar auch, sich gegen jene zu stellen, die für Frieden mit Palästina auf die Straße gehen. Der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden, Daniel Botmann, urteilte auf der Kundgebung: Die Demonstranten gingen aus purem Hass gegen Israel und die Juden auf die Straße. Er forderte: „Schluss mit der Toleranz. Wer antisemitische Parolen schreit, muss notfalls auch abgeschoben werden. Wer die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, muss empfindlich bestraft werden.“ Die Forderung „Freiheit für Palästina“ wird von Medien und Politik zu einer Losung von Terrorunterstützern umgedichtet. Kritik am Vorgehen Israels und der Besatzung Palästinas wird als antisemitisch verleumdet. Vor allem in Berlin, aber auch in anderen Städten nimmt die Repression gegen die Palästina-Solidaritätsbewegung zu. Das Recht auf Demonstrationen muss gerichtlich erstritten werden, manche Demo bleibt verboten. Es drohen Vereinsverbote und es kommt zu massiven Polizeieinsätzen.

Selbst in Israel scheint Kritik an der Regierung und ein Diskurs über die Nahost-Politik eher möglich zu sein als in diesem Land. Auch jüdische Organisationen kritisieren Israel und das Vorgehen gegen die Palästinenser scharf. Wir dokumentieren auf dieser Seite jüdische Stimmen der Vernunft aus Israel, Deutschland und den USA, die die Gewalt der Hamas ebenso ablehnen wie die des israelischen Staates.

Breaking the Silence: Verhandelt!

Die Organisation „Breaking the Silence“ – „Das Schweigen brechen“ hat gemeinsam mit rund 30 Menschenrechtsorganisationen aus Israel eine Erklärung abgegeben. „Breaking the Silence“ ist eine Organisation von ehemaligen und aktiven Soldaten der israelischen Armee, deren Ziel es nach eigenen Angaben ist, „die israelische Öffentlichkeit mit der Realität des täglichen Lebens in den besetzten Gebieten zu konfrontieren“.

Wir, die Mitglieder der unterzeichnenden Menschenrechtsorganisationen in Israel, sind in diesen furchtbaren Tagen schockiert und entsetzt. Die entsetzlichen Verbrechen der Hamas gegen unschuldige Zivilisten – darunter Kinder, Frauen und alte Menschen – haben uns alle erschüttert und es fällt uns schwer, uns von den kaum zu ertragenden Bildern zu erholen. Einige von uns hielten sich während des Angriffs in den israelischen Ortschaften an der Grenze zum Gazastreifen auf; viele von uns haben Familienangehörige, Freunde und Kollegen, die die erschütternden Ereignisse miterlebt haben und sich immer noch in deren Zentren befinden; und wir alle kennen Menschen, die ermordet, verletzt oder entführt wurden. (…)

Die meisten unserer Gruppen bestehen aus Israelis und Palästinensern; daher haben einige von uns Verwandte und Freunde im Gazastreifen, die derzeit unter den ständigen Angriffen des israelischen Militärs leben. Kinder, Frauen, Greisinnen und Greise werden wahllos angegriffen und haben keine Aussicht auf Zuflucht. Auch jetzt – gerade jetzt – müssen wir unsere moralische und menschliche Haltung wahren und dürfen nicht der Verzweiflung oder dem Drang nach Rache nachgeben. (…)

Wir verlangen die sofortige Freilassung aller Geiseln und ein Ende der Bombardierung der Zivilbevölkerung in Israel und im Gazastreifen. (…) Als Menschen, die sich für die Förderung der Menschenrechte einsetzen und an die Unantastbarkeit des Lebens glauben, rufen wir eindringlich dazu auf, die wahllose Zerstörung von Leben und Infrastruktur der Zivilbevölkerung zu beenden. Wir rufen dazu auf, Verhandlungen zu führen und alle denkbaren Maßnahmen zu ergreifen, um die Freilassung der Geiseln herbeizuführen – unter Vorrang der von der Hamas festgehaltenen Zivilisten. Das ist die einzig humane und vernünftige Maßnahme, und das muss sofort geschehen.

Elephant in the room: Beendet die Gewalt!

Weit über 1.500 Wissenschaftler, überwiegend jüdische, hatten in einer gemeinsamen Erklärung „Elephant in the room“ vom 4. August 2023 auf den „Elefanten im Raum“ in der Debatte um die Zukunft Israels und Palästinas aufmerksam gemacht: Es könne keine Demokratie für Juden geben, solange Palästinenser unter einem Apartheid-Regime leben müssten. Mehr als 1.000 der Unterzeichner haben am 14. Oktober mit einer Erklärung auf den Überfall der Hamas und die brutale Reaktion Israels reagiert:

Wir verurteilen die Hamas für ihre abscheulichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Terroristen, die Hunderte von Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder, Säuglinge und Senioren auf grausamste Weise abgeschlachtet und zahlreiche weitere entführt haben, müssen vor Gericht gestellt werden. Israel hat jedes Recht, sich zu verteidigen und diese Mörder zu verfolgen, wo immer sie zu finden sind.

In dieser Zeit des Schmerzes und der Verwüstung rufen wir Israel dazu auf:

  1. Alles in seiner Macht Stehende tun, um die Geiseln zu befreien. Israel hält eine große Zahl von Palästinensern in Gefängnissen gefangen, darunter viele ältere Menschen. Israel muss sich um einen Gefangenenaustausch bemühen, um die eigenen und die entführten Staatsbürger anderer Länder vor dem sicheren Tod zu bewahren.
  2. Verzichten Sie auf die kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung des Gazastreifens für die Verbrechen der Hamas. Ein Massaker rechtfertigt nicht das nächste. Es würde nur zu weiteren Zerstörungen führen und den Kreislauf der Gewalt weiter antreiben. Wir rufen auf zum sofortigen Waffenstillstand und zur Deeskalation.
  3. Beenden Sie die gewaltsame Unterdrückung des palästinensischen Volkes. Die Apartheid, die jahrzehntelange Besetzung des Westjordanlands, die 16-jährige Belagerung des Gazastreifens mit zwei Millionen Palästinensern und die Auslöschung der Erinnerung an die Nakba – all dies trägt zu Verrohung und Gewalt bei. Dem muss dringend ein Ende gesetzt werden. Es gibt keinen anderen Weg.

Unsere Trauer und unsere Bestürzung dürfen uns nicht dazu verleiten, Rache zu üben und weiteres Blutvergießen unter der Zivilbevölkerung zu verursachen. Wir rufen die Führungen Israels und der Palästinenser, die Regierung der Vereinigten Staaten, die internationale Gemeinschaft und alle friedenswilligen Menschen auf der ganzen Welt auf, sich gemeinsam für eine schnelle Beendigung der gegenwärtigen Gewalt und für einen wahrhaften und gerechten Frieden zwischen Israelis und Palästinensern einzusetzen.

Stoppt die Gewalt in Israel und in Gaza.

Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost: Krieg seit 75 Jahren

Am 10. Oktober hat sich die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ zur Gewalteskalation in Israel und dem Gazastreifen geäußert. Der Verein ist die deutsche Sektion der Föderation „European Jews For A Just Peace“ – „Europäische Juden für einen gerechten Frieden“.

Nach diesem Wochenende fällt es schwer, die richtigen Worte zu finden. Wir sind voller Trauer um die Toten, in Gedanken bei den Trauernden und Verletzten, voller Angst um Freundinnen, Freunde und Verwandte in ganz Israel-Palästina.

Wir sind auch wütend, wütend auf die Unterstützer des 75-jährigen israelischen Kolonialregimes und die Blockade des Gazastreifens, die zu diesen Ereignissen geführt hat. Nun ist eingetreten, wovor viele in unseren Reihen seit Jahren gewarnt haben. 16 Jahre Blockade, Mangel an sauberem Wasser, Strom, medizinischer Versorgung sowie regelmäßige Bombenangriffe haben Gaza zu einem Pulverfass gemacht. Gaza gilt laut UN seit 2020 als unbewohnbar. Was nun geschehen ist, glich einem Gefängnisausbruch, nachdem die Insassen zur lebenslangen Haft verurteilt wurden, nur weil sie Palästinenserinnen und Palästinenser sind.

Die israelische Regierung hat eine Kriegserklärung abgegeben, doch der Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung dauert schon 75 Jahre. Vertreibung, Bombardements, Verhungern, Verdursten, Beschränkung von Essen, Strom, Wasser – das sind die Wurzeln der Gewalt.

Viele in Deutschland zeigen sich gerade solidarisch mit Israel, mit einem Apartheidstaat, der eine rassistische Politik gegen das palästinensische Volk ausübt, die schon Zehntausende das Leben gekostet hat. Doch wer das Blutvergießen tatsächlich beenden möchte, muss sich für eine radikale Veränderung der bisherigen Politik einsetzen, damit alle Menschen in Freiheit leben können.

Die deutsche Regierung betreibt seit Jahren keine Außenpolitik in Israel-Palästina. Die Palästinenserinnen und Palästinenser werden in Deutschland systematisch entmenschlicht: Sie dürfen für ihre politischen Rechte und Aufforderungen nicht demonstrieren, ihre Geschichte, Identität oder Gefühle zeigen. Die deutsche Politik hat den gewaltlosen Widerstand in Form von BDS („Boycott, Divestment and Sanctions“ – „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“) oder Demonstrationen immer wieder kriminalisiert und unterdrückt.

Wir fordern die deutsche Regierung auf, ihr eigenes Grundgesetz zu respektieren: die Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen Israels nicht mehr zu unterstützen, Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu sichern und sich dafür einzusetzen, dass alle Menschen zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan die gleichen Rechte bekommen.

Jewish Voice for Peace: Ursachen der Gewalt beseitigen!

Die „Jewish Voice for Peace“ – „Jüdische Stimme für Frieden“ ist eine US-amerikanische Aktivistenorganisation, die sich mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt befasst.

(…) Nach 16 Jahren israelischer Militärblockade starteten palästinensische Kämpfer aus dem Gazastreifen einen beispiellosen Angriff, bei dem Hunderte von Israelis getötet und verwundet und Zivilisten entführt wurden. Die israelische Regierung erklärte den Krieg, startete Luftangriffe, bei denen Hunderte von Palästinensern getötet und Tausende verwundet wurden, bombardierte Wohnhäuser und drohte mit Kriegsverbrechen gegen die belagerten Palästinenser in Gaza.

Die israelische Regierung mag gerade erst den Krieg erklärt haben, aber der Krieg gegen die Palästinenser begann vor über 75 Jahren. Die israelische Apartheid und die Besatzung – sowie die Komplizenschaft der Vereinigten Staaten bei dieser Unterdrückung – sind die Ursache all dieser Gewalt. (…)

Im vergangenen Jahr hat die rassistischste, fundamentalistischste und rechtsextremste Regierung in der Geschichte Israels ihre militärische Besatzung der Palästinenser im Namen der jüdischen Vorherrschaft rücksichtslos eskaliert mit gewaltsamen Vertreibungen und Hauszerstörungen, Massentötungen, militärischen Razzien in Flüchtlingslagern, unerbittlicher Belagerung und täglicher Demütigung. In den letzten Wochen haben israelische Streitkräfte wiederholt die heiligsten muslimischen Stätten in Jerusalem gestürmt.

Seit 16 Jahren erstickt die israelische Regierung die Palästinenser im Gazastreifen mit einer drakonischen Luft-, See- und Land-Militärblockade, hält zwei Millionen Menschen gefangen, lässt sie hungern und verweigert ihnen medizinische Hilfe. Die israelische Regierung richtet routinemäßig Massaker an den Palästinensern in Gaza an. Bereits Zehnjährige in Gaza sind in ihrem kurzen Leben durch sieben große Bombenangriffe traumatisiert.

Seit 75 Jahren hält die israelische Regierung eine militärische Besatzung der Palästinenser aufrecht und praktiziert ein Apartheidregime. Palästinensische Kinder werden im Morgengrauen bei Razzien von israelischen Soldaten aus ihren Betten gezerrt und ohne Anklage in israelischen Militärgefängnissen festgehalten. Häuser von Palästinensern werden von israelischen Siedlerbanden in Brand gesteckt oder von der israelischen Armee zerstört. Ganze palästinensische Dorfgemeinschaften sind gezwungen zu fliehen und ihre Häuser, Obstgärten und Ländereien, die seit Generationen im Familienbesitz sind, zu verlassen.

Das Blutvergießen von heute und der vergangenen 75 Jahre geht direkt auf die Komplizenschaft der USA zurück mit der Unterdrückung und dem Schrecken, die durch Israels militärische Besatzung verursacht werden. (…) Wir fordern, dass die US-Regierung unverzüglich Schritte unternimmt, um die Finanzierung von Israels Militär einzustellen und die israelische Regierung für ihre schweren Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen gegen die Palästinenser zur Rechenschaft zu ziehen. (…) Es ist unvermeidlich, dass unterdrückte Menschen überall ihre Freiheit suchen – und erringen. Wir alle haben Freiheit, Sicherheit und Gleichheit verdient. Der einzige Weg dahin besteht in der Beseitigung der Ursachen der Gewalt, angefangen bei der Mitschuld unserer eigenen Regierung.

Weitere Infos unter: unsere-zeit.de/naher-osten
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"Die Besatzung ist die Ursache der Gewalt", UZ vom 27. Oktober 2023



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