„Es hat nichts gebracht.“
Leyla Imret (28), Tochter eines gefallenen PKK-Kämpfers, kandidierte 2014 für die kurdische Partei BDP (heute: DBP) als Bürgermeisterin von Cizre. Sie wurde mit 83 Prozent der Stimmen gewählt. Nach einer Hetzkampagne der Regierungsmedien setzte der türkische Innenminister sie ab. Im Gespräch mit UZ erzählt sie von der Zeit der Ausgangssperre.
„Nach der neuntägigen Ausgangssperre in Cizre haben wir die 90er Jahre noch einmal vor Augen. Ich habe diese Zeit als Kind erlebt…
Dabei hatten wir einen Friedensprozess. Wir haben gedacht: Jetzt müssen alle Seiten, muss auch die türkische Regierung dafür sorgen, dass es hier Ruhe gibt. Herr Öcalan hat damals, im November 2014, eine Friedensnachricht nach Cizre geschickt, und die Lage hat sich normalisiert. Und nun, was in den Tagen der Ausgangssperre geschehen ist, war unmenschlich. Im Viertel Nur wohnen 35 000 Menschen. Sie haben das ganze Viertel blockiert, sie haben mit schweren Waffen, mit Panzern, mit Granaten angegriffen, 21 Menschen sind ums Leben gekommen.
Ich habe als Bürgermeisterin versucht, mit den Einsatzkommandos zu verhandeln. Wir hatten kein Mobilfunknetz, aber bei uns in der Straße gibt es einen Festnetzanschluss, da bin ich immer hingerannt und habe telefoniert, mit der Feuerwehr, mit dem Rathaus. Ich bin mehrmals so über die Straße gelaufen, ich bin ganz schnell gerannt, um nicht erschossen zu werden. Ich habe versucht, dafür zu sorgen, dass wenigstens die Kranken und Verletzten rauskommen, aber es hat nichts gebracht. Es gab einen Brand im Viertel, und ich habe als Bürgermeisterin die Feuerwehr angerufen und gesagt: Ihr müsst herkommen, es brennt. Die haben gesagt: Wie sollen wir kommen, die schießen. Ich habe Druck gemacht, dann kamen sie, aber die Polizei hat geschossen, und ein Feuerwehrmann wurde verletzt. Also, sie wurden nicht in die Straße gelassen. Das Haus ist total ausgebrannt.
Auch als Bürgermeisterin konnte ich da nichts machen. Das war das Schlimme: Uns waren die Hände gebunden, wir konnten nicht mal kommunizieren, weil es kein Netz gab. Auch unsere Leichen wurden nicht abgeholt.
Am siebten Tag der Ausgangssperre haben Verwandte mich über Festnetz angerufen und gesagt: Der Erdogan redet im Fernsehen von dir. Die Medien haben gesagt, ich würde zum Bürgerkrieg aufrufen. Am nächsten Tag habe ich erfahren, dass der Innenminister mich des Amtes enthoben hat.“
Gespräch: OM
Vor drei Wochen, am 12. September, hat der Gouverneur der Provinz Sirnak die Ausgangssperre in Cizre aufgehoben, drei Wochen des Wiederaufbaus haben die Spuren nicht beseitigt: Die Fassaden sind mit Einschüssen übersät. Die Granaten haben Löcher gerissen, durch die wir in zerstörte Häuser blicken. In Silvan, einem Bezirk der Provinz Diyarbakir, ist die Ausgangssperre erst am Vortag aufgehoben worden – ausgebrannte Autos liegen am Straßenrand, eingedrückte Mauern sind noch nicht eingestürzt, in einem Hof liegt die Tür, die die Sonderkommandos der Polizei mitsamt dem Rahmen aus der Wand getreten haben. Der Müll, die erschossenen Tauben und Katzen, der Gestank von Kadavern und Leichen, von dem die Anwohner erzählen, sind schon beseitigt worden.
„Akrep“ heißt auf Türkisch „Skorpion“, und so heißt auch ein Spähpanzer aus der Produktion des Fahrzeugbauers Otokar, einer Tochter der Koc Holding – das Familienunternehmen, das allein 12 Prozent aller Exporte aus der Türkei abwickelt. Auch den „Akrep“ exportiert das Unternehmen, zum Beispiel in die USA, aber vor allem hat es den beweglichen Radpanzer für die Bedürfnisse der türkischen Streitkräfte entwickelt. Die Panzerung schützt die Besatzung vor Handfeuerwaffen und Splittern, das aufmontierte Maschinengewehr lässt sich aus dem Inneren steuern. Mit diesen Wagen sind die Sonderkommandos der Polizei eingerückt, um die Ausgangssperre durchzusetzen. Vom Stadtrand, aus einem fahrenden Bus, sehen wir die Stadt Nusaybin – hier wird die Ausgangssperre erst am folgenden Tag aufgehoben werden. Kein Mensch auf der Straße – nur die patrouillierenden „Akrep“.
Mit diesen Panzern sind die Sonderkommandos in die kurdischen Städte im Osten der Türkei eingerückt, in denen durch Befehl der Regierung der Ausnahmezustand verhängt worden war. Über Lautsprecher wiesen sie die Anwohner an, in ihren Häusern zu bleiben. Nach außen verkündet die Regierung, die Einsätze dienten dem Kampf gegen „Terroristen“, also gegen bewaffnete Kämpfer der kurdischen Bewegung. Gegenüber den Anwohnern spielte diese Propaganda keine Rolle. Am Abend des 11. September, einen Tag, bevor die Ausgangssperre in Cizre aufgehoben werden sollte, gaben die Polizeilautsprecher durch: „Armenische Bastarde, wir töten euch alle.“ Im Netz kursieren Fotos eines Polizeiwagens, der die Leiche eines ermordeten Kurden hinter sich herschleift. Die örtliche Polizei ist dem Kaymakam, dem von der Zentralregierung eingesetzten obersten Verwaltungsbeamten des Landkreises, unterstellt. Als die Kommandos in das städtische Krankenhaus von Nusaybin einzogen, warnte der zuständige Kaymakam: „Nehmt euch in Acht vor den Männern mit den Sturmhauben.“ Denn diesen Beamten könne er keine Anweisungen geben. Sie fuhren schießend durch die Straßen. Im Auftrag der frommen AKP-Regierung postierten sie Scharfschützen auf den Minaretten, verboten zum Gebet zu rufen und schossen auch auf diejenigen, die die Leichen ihrer Angehörigen von der Straße bergen und beerdigen wollten.
Auf den Dächern der meisten Häuser stehen Wassertanks, in denen das Wasser gespeichert und von der Sonne aufgeheizt wird. Die Polizei hatte die Stadtteile von jeder Versorgung abgeschnitten – sie schoss auf Transformatoren, um die Stromversorgung zu unterbrechen, sie kappte das Mobilfunknetz – Festnetzanschlüsse gibt es nur wenige –, sie drehte das Wasser ab. Für viele Haushalte waren die Tanks der einzige Wasservorrat. Nun sind die meisten zerstört, die Polizisten haben sie gezielt beschossen. In Silvan erzählt uns Ibrahim, 14 Jahre, wie er mit einigen Freunden versuchte, Wasser in die Häuser zu bringen. Die Scharfschützen nahmen die Jungen unter Feuer.
Zwei Tage nach Beginn der Ausgangssperre hatte Familie Simsek aus Cizre nichts mehr zu Essen im Haus. Nimet Simsek, ein Straßenhändler, ging zur Bäckerei. Die war geschlossen, als er ankam, feuerten die Polizisten, er floh. Die Ausgangssperre galt rund um die Uhr. In einem der Viertel, die weniger stark angegriffen wurden, konnte Ramazan Batar seine Bäckerei öffnen. Weil sein Laden als einziger geöffnet war, bildete sich eine Schlange vor der Tür, bis die Polizei Tränengaskartuschen in die Bäckerei schoss. Vor einem Laden, in dem sich die Trümmer stapeln, sagt uns jemand, dass auch hier eine Bäckerei war, bis die Polizei einrückte.
Einige Tage lang durften auch Krankenwagen nicht fahren. Als die Anwohner forderten, dass ihre Verletzten ins Krankenhaus gebracht werden, stellten Polizisten fest, dass die Verletzungen doch nicht lebensgefährlich seien. Einige von ihnen starben. In der Notaufnahme des Krankenhauses von Cizre richtete die Polizei ihr Quartier ein. Bereits während der Ausgangssperre hatte sich einen Delegation von 300 Anwälten, Mitglieder kurdischer und linker Anwaltsorganisationen, auf den Weg gemacht. Am Morgen des 12. September, direkt nachdem der Gouverneur den Leuten wieder gestattet hatte auf die Straße zu gehen, kamen diese Anwälte nach Cizre, teilten sich in Arbeitsgruppen auf, befragten Zeugen und untersuchten die Schäden. In einem Bericht dokumentierten sie die Zustände, die in Cizre während dieser neun Tage geherrscht hatten. Sie zählten 21 Tote. Nach Regierungsangaben handelt es sich um Terroristen, die im Gefecht unschädlich gemacht wurden. In ihrem Bericht stellen die Anwälte fest: „Es handelte sich nicht um einen wechselseitigen Konflikt, sondern um einseitige Angriffe der Polizei auf die Anwohner. Es wurde festgestellt, dass alle von der Polizei Ermordeten vollständig unbewaffnet waren und dass es sich um gewöhnliche Anwohner handelte.“ Elf der Toten starben durch Schüsse in den Kopf. Eine Mutter wurde in ihrem Haus von Kugeln getroffen, ihr einen Monat alter Sohn starb ebenfalls zu Hause – der zur Hilfe gerufene Krankenwagen war beschossen worden und kam nicht durch.
Auch der Vater von Cemile Cagirga rief einen Krankenwagen, als seine zehnjährige Tochter von einer Kugel getroffen worden war. Er bekam die Antwort, dass kein Wagen kommen könne. Cemile hatte mit anderen gegen die Ausgangssperre protestiert, Lärm gemacht, auf Töpfe geschlagen. Ihre Mutter erzählt, wie sie die Leiche ihrer Tochter einen ganzen Tag auf dem Schoß hielt, wie die Leiche aufzuquellen begann, wie sie sie gewaschen und in ein Tuch gehüllt hat – und wie sie ihre Tochter in eine Kühltruhe des benachbarten Metzgers legte, weil es keine Möglichkeit gab, sie zu beerdigen. Ein HDP-Abgeordneter, der sich im Viertel aufhielt, gab die Nachricht an die Presse weiter. Erst nach Presseberichten, Verhandlungen zwischen Abgeordneten und Gesundheitsministerium, weiteren Schüssen konnte die Leiche ins Krankenhaus gebracht werden. Die Kugel, vermutet der Vater, hat einer der Scharfschützen auf dem Dach der Schule abgefeuert.
Von der Straße aus blicken wir über die Ebene. Wir sehen Wachtürme, Posten, Zäune. Cizre und Nusaybin, Städte mit 120 000 bzw. 90 000 Einwohnern, liegen an der Grenze zu Syrien. Ein gut ausgebauter Grenzübergang ist heute menschenleer. Auf der anderen Seite liegt Rojava.
Dort, im Norden Syriens, hat die kurdische Bewegung im Laufe des syrischen Krieges ihre Selbstverwaltung aufgebaut. Dort kämpfen die Truppen der mit der PKK verbündeten PYD gegen den Islamischen Staat (IS). Hier lässt Erdogan Luftangriffe gegen die PKK fliegen, dort unterstützten die USA mit Luftangriffen den Kampf der Kurden. Nicht weit von dort, im irakischen Sindschar-Gebirge, hatten die Truppen der PYD einen Korridor geschlagen, als der IS die dorthin geflohenen Jesiden bedrohte. Hier steht auch ein Lager mit 3 000 jesidischen Flüchtlingen unter Ausgangssperre. Dort spielt die kurdische Bewegung ihre Rolle in den Plänen der USA zur Neuordnung des Nahen Ostens. Hier erzählen zwei der Anwälte, die für den Bericht über die Ausgangssperre von Cizre Beweise zusammengetragen haben, von einem Verdacht, den sie nicht beweisen können: In ihrem Krieg gegen die kurdische Bevölkerung arbeiten die Sondereinheiten der Polizei mit Islamisten zusammen. Manche der Vermummten, die kurdische Städte terrorisierten, sprachen Arabisch. In Cizre hätten Anwohner gesehen, wie einer von ihnen getötet worden ist – aber dieser Tote taucht in den offiziellen Berichten nicht auf. Die Leute sagen, so berichten die Anwälte: Das sind islamistische Milizen, die aus Syrien eingeschleust worden sind.
Es ist wieder wie in den 90er Jahren. Das hören wir in vielen der Gespräche, die wir in Cizre führen. Damals hatte der Krieg des türkischen Staates gegen die PKK seinen Höhepunkt erreicht. 1992 sprengten die türkischen Streitkräfte die Newrozfeiern in Cizre mit Panzern. Die Verhafteten blieben verschwunden. Der Terror gegen die Kurden ist derselbe wie damals. Aber die kurdische Bewegung ist stärker. Durch die Bildung der HDP ist sie stärker als jemals im Parlament vertreten. Die HDP stellt die Abgeordneten, die mit den Behörden über die Versorgung der Bevölkerung während der Ausgangssperre verhandeln, und sie stellt die Bürgermeister, die nun den Wiederaufbau organisieren. Hier, in den kurdischen Städten im Osten, hatte die HDP bei den Wahlen im Juni oft 80, manchmal über 90 Prozent der Stimmen bekommen. Die kurdische „Selbstverwaltung“ in Rojava gilt hier als Vorbild, das Ansehen und die Kraft aus dem Kampf gegen den IS in Syrien stärkt die Kurden auch hier. Ahmet Türk, ein kurdischer Politiker, der Vorsitzender verschiedener kurdischer Parteien und Parlamentsabgeordneter war, ist heute Oberbürgermeister von Mardin. Nach einem Abendessen in einem Hotel in der Altstadt von Mardin spricht er vor der Gruppe unserer Delegation: „Mittlerweile weiß die Welt, dass die Kurden hier in der Region eine Kraft sind.“
Im Büro der HDP in Cizre, unter Bildern von Abdullah Öcalan, treffen wir Leyla Imret (siehe Kasten). Bis vor kurzem war sie hier Bürgermeisterin, vorher hatte sie in Deutschland gelebt. Im Laufe des August hatte die PKK einen Aufruf verbreitet, in dem sie in einer Reihe kurdischer Städte – auch Cizre – eine kurdische „Selbstverwaltung“ ausrief. Zu den Reaktionen des Staates gehörte auch, die Bürgermeisterin Imret mit manipulierten Zitaten als „Terroristin“ darzustellen, schließlich setzte der Innenminister sie ab – genauso wie eine Reihe weiterer kurdischer Bürgermeister.
Auf einer Hauptstraße in Silvan sammeln sich die Menschen. Der Zug geht los, sie rufen Sprechchöre, am Zug vorbei fährt ein Krankenwagen mit Blaulicht. Hier, auf der breiten Straße, stehen die Wasserwerfer und Panzerwagen der Polizei. In den Gassen, in die der Zug zieht, ist kein Polizist zu sehen. Aus dem Krankenwagen laden die Leute einen Sarg aus, der mit der kurdischen Fahne bedeckt ist. Sie beerdigen eine alte Frau, die sich während der Ausgangssperre den Polizeipanzern entgegengestellt hatte. Die Demonstration ist ein Trauermarsch. Die älteren Frauen des Ortes tragen den Sarg. Eine von ihnen – mit Kopftuch und Halskette in den kurdischen Farben Rot, Gelb und Grün. „Wir haben den kurdischen Staat schon seit langem kennengelernt, wir werden nicht aufgeben. Gott wird uns helfen“, sagt sie. Der Zug marschiert zum Friedhof. Sie singen die Lieder der PKK. Aus einem Haus kommt ein vielleicht dreijähriges Mädchen und singt „Es lebe Apo“, es lebe Öcalan.
Eine Guerilla, die mit dem Volk verbunden ist, kann nicht besiegt werden. In Cizre sehen wir die Einschüsse – und wir sehen die Barrikaden, mit denen sich die Leute vor neuen Angriffen schützen wollen. Gruben und Steinhaufen hindern die Polizei daran, in die Seitenstraßen zu fahren. Gespannte Laken sollen Scharfschützen die Sicht versperren. Sandsäcke, bis zu zwei Meter hoch gestapelt, lassen nur Fußgänger durch. Oben wehen die Fahnen der Kurden. Diejenigen, die die Barrikaden bauen und verteidigen, sind Jugendliche aus der Stadt: Die YDG-H, Jugendorganisation der PKK, die aber nicht unbedingt dem direkten militärischen Kommando der PKK untersteht. Sie verteidigen sich gegen die Angriffe des Staates, sie besitzen leichte Waffen, für die Einschusslöcher der Granaten sind sie nicht verantwortlich. Mithat Sancar, HDP-Abgeordneter aus Nusaybin, sagt uns, er wäre bereit, zwischen den Behörden und bewaffneten Jugendlichen zu vermitteln. Aber er sagt auch, dass der Zorn unter den Menschen weiter wächst. In den Nebenstraßen von Silvan läuft der Wiederaufbau: Die Leute räumen Trümmer aus zerstörten Geschäften, Arbeiter erneuern die Stromleitungen. Über die Hauptstraße fährt ein Konvoi gepanzerter Polizeiwagen.
Unser Autor nahm vom 4. bis zum 7. Oktober an einer Delegationsreise von Friedensaktivisten, Politikern und Journalisten in die kurdischen Gebiete der Türkei teil, zu der der türkische „Friedensblock“ eingeladen hatte. Die Beteiligung aus Deutschland organisierte die DIDF.