In den beiden ersten Teilen der Reihe beschäftigten wir uns mit den Widersprüchen in der UdSSR, der Zerstörung des ersten sozialistischen Staates durch Michail Gorbatschow und dem Übergang der Führung der Konterrevolution in die Hände Boris Jelzins. Dieser lieferte das Land den Interessen des Imperialismus aus, was die Entstehung einer kriminellen Oligarchie voraussetzte und ihre Bereicherung begünstigte. Der abschließende Teil der Serie gibt einen Überblick über die Entwicklung Russlands in den vergangenen drei Jahrzehnten.
Chaos und Destabilisierung
Das unkritische Verhalten gegenüber den westlichen „Werten“ führte zur Marginalisierung traditioneller Werte und zur Anbetung des „American Way of Life“. Die Politik, die das mechanische Verpflanzen dieser Werte nach Russland ohne Beachtung der kulturellen Individualität des Landes anstrebte, förderte dessen Zerstörung.
Das so geschaffene politische und ideologische Chaos bot günstigen Boden für die Schaffung und das Wirken oppositioneller Bewegungen und ausländischer „Nichtregierungsorganisationen“, die halfen, Staat und Gesellschaftsordnung zu zerstören.
Die Privatisierungspolitik der Regierung spitzte die wirtschaftliche und soziale Situation in Russland zu. Anfang der 1990er-Jahre kam es zum großen Ausverkauf des Volkseigentums und der russischen Rohstoffe. Von der russischen Regierung wurden Anteilsscheine an den volkseigenen Betrieben ausgegeben. Ein Teil der Bevölkerung war gezwungen, diese zum Überleben direkt weiterzuverkaufen, da die Güter des täglichen Bedarfs sich massiv verteuert hatten, nachdem die Preisbindung aufgehoben worden war. Viele Menschen leisteten sich für „ihr Volkseigentum“ importierte Konsumgüter. So landete das Volkseigentum in den Händen einer kleinen Gruppe von Geschäftemachern. Diese verdiente ihr Geld vor allem mit der Verschleuderung der russischen Rohstoffe in den Westen – Erdöl, Erdgas, Metalle, Holz und andere Naturgüter sowie russisches Staatsvermögen und Waffen wurden ins Ausland verschoben, häufig entgegen geltendem Recht. Verwaltung und Politik wurden an diesen Machenschaften beteiligt. Eine neue Schicht – häufig krimineller – Neureicher entstand. Sie war eng mit der Politik verbunden, die Staat und Gesellschaft zerstörte, Korruption beförderte und sich selbst bereicherte. Während die Auslandsverschuldung rasant stieg, schufen Banken und Staat Möglichkeiten, um mit allerlei Spekulationen Geld zu scheffeln. Besonders beliebt war die Verzögerung der Auszahlung von Löhnen und Renten. Teilweise mussten die Menschen Monate auf ihr Geld warten. In der Zwischenzeit wurde mit diesem Geld an den Börsen gewettet oder es wurde kurzfristig weitergegeben. So kehrten Hunger, Kälte und Obdachlosigkeit sowie Drogensucht, Elend und Verfall nach Russland zurück.
In der Zeit von 1990 bis 1992 kam es zu wiederholten Misstrauensanträgen gegen Jelzin im Kongress, aus denen er aber immer wieder mit neuen Sondervollmachten hervorging.
Der wichtigste Gegenspieler der Regierungspolitik war der Kongress der Volksdeputierten, die Sowjets als Ausdruck der Herrschaft der Arbeiterklasse. Eine Revolte dieser Opposition misslang 1993 (siehe Kasten). Jelzin dekretierte die landesweite Auflösung der Sowjets. Im Dezember ließ er eine neue Verfassung verabschieden, die dem Präsidenten weitgehende Rechte einräumte. Er regierte mithilfe von Dekreten; sein Regierungsstil glich sich der zaristischen Selbstherrschaft an. Seine Wiederwahl im Juni 1996 und seinen Sieg über den kommunistischen Kandidaten, der offiziell 40,3 Prozent der Stimmen erhielt, sicherte er durch massive Manipulation der Medien und nachgewiesene Wahlfälschung.
Dafür zeigte sich das Treffen der G7 zufrieden mit Jelzins Russland und versprach mehr Unterstützung. Russland näherte sich dem Partnerschaftsprogramm der NATO an und stellte einen Antrag auf Aufnahme in den „Europarat“. Für den Westen war Jelzin alternativlos. Helmut Kohl, ehemaliger Bundeskanzler, würdigte ihn für die Zerschlagung Russlands und den Wandel des dortigen Systems. Im Januar 2003 sagte er im Bundesvorstand der CDU im Rückblick auf Jelzins Amtszeit, er sei „der Einzige, der die physische und moralische Kraft hat, dieses kaum vorstellbare Wagnis zu unternehmen“.
Im Vergleich zu den westlichen Mächten wurde die ehemalige Großmacht Russland zu einem Land der Peripherie mit einer Mischung aus kapitalistischem Eigentum und patriarchalen Strukturen.
Gegendruck entsteht
Angesichts dieser Entwicklungen und der zunehmend problematischen Lage der Bevölkerungsmehrheit schlug eine Initiativgruppe der Duma 1998 vor, ein Amtsenthebungsverfahren gegen Jelzin einzuleiten.
Die Anklagepunkte wurden aus Jelzins Handlungen zur verbrecherischen Zerstörung des Staates abgeleitet: Die von Jelzin verfügte Außerkraftsetzung des Unionsvertrags von 1922 sei absolut ungesetzlich gewesen. Als Verbrechen wurde auch die faktische Annullierung des vom Kongress der Volksdeputierten der UdSSR am 24. Dezember 1990 beschlossenen unionsweiten Referendums zur Frage der Erhaltung einer erneuerten Sowjetunion eingestuft.
Zu dieser Zeit litt Russland unter einer Finanzkrise. Banken waren zusammengebrochen; der Rubel wurde abgewertet, was die soziale Situation der Bevölkerung verschärfte. Der hohe Grad der Destabilisierung von Staat und Gesellschaft im damaligen Russland wird auch darin deutlich, dass Jelzin in der Zeit von März 1998 bis August 1999 fünfmal den Ministerpräsidenten auswechselte.
Am 9. August 1999 wurde Wladimir Putin vom Chef des Sicherheitsrates als Ministerpräsident und designierter Nachfolger Jelzins im Präsidentenamt vorgeschlagen. Am 26. März 2000 wurde er im ersten Wahlgang mit 53 Prozent der Stimmen vor Gennadi Sjuganow (30 Prozent), Vorsitzender der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), zum Präsidenten Russlands gewählt.
Stoppzeichen
Mit der Entmachtung Jelzins wurde das Wuchern einer zerstörerischen Entwicklung gestoppt und damit nicht nur den Interessen Russlands entsprochen. Es war zugleich ein Schritt, der Möglichkeiten zur Wiederherstellung der Rolle Russlands im Ringen um friedliche internationale Bedingungen eröffnete.
Putin übernahm die Regierung eines heruntergewirtschafteten Landes, dessen Sozialprodukt sich in den Jahren zuvor halbiert hatte. Viel Spielraum war da nicht vorhanden – sowohl unter diesem Gesichtspunkt als auch unter Berücksichtigung der inneren und internationalen Kräfteverhältnisse. Die Oligarchen mussten einer bestimmten Ordnung unterworfen werden. Zugleich ging es darum, Russland zu retten und dafür alle patriotisch gesinnten Kräfte zusammenzuführen – trotz Existenz der Oligarchen und ihres während der Jelzin-Zeit gewonnenen politischen Einflusses.
Putins ideologisches Konzept eines russischen Patriotismus war und ist nicht nur von den neu geschaffenen Eigentumsverhältnissen und vom Antikommunismus, sondern auch von der von den Menschen selbst erlebten Geschichte der Sowjetunion geprägt. Das beinhaltet ihre Leistungen für die Menschen und ihre Siege im Kampf gegen ausländische Aggressoren und für eine friedliche Welt. Wichtig erscheint unter diesem Gesichtspunkt ein Hinweis von Putin selbst zu sein, den er während der von den Medien organisierten „Direct Line“-Veranstaltung 2021 formuliert hat. Er hat sich darin zum ersten Mal öffentlich von Jelzin distanziert und betont, dass er die Macht nicht von ihm, sondern vom Volk erhalten hat.
Widersprüche erfordern Lösung
Das ist eine wichtige Voraussetzung, um die objektiven und subjektiv bedingten Probleme zu lösen. Die Entwicklung in Russland in den letzten 20 Jahren bestätigt, dass Staat und Politik Ausdruck der ökonomischen Bedürfnisse der Gesellschaft und der unterschiedlichen sozialen Gruppen sind, aus der die Gesellschaft besteht.
Es zeigt sich aber auch, dass Staat und Politik auf die Gesellschaft, auf die ökonomischen und sozialen Beziehungen zurückwirken können. Das heißt, die materiellen Verhältnisse haben den letztlichen, aber nicht den alleinigen Einfluss. Neben der Ökonomie haben auch andere Faktoren einen – teils entscheidenden – Einfluss auf die politischen Prozesse. Laut Friedrich Engels ist ein Standpunkt nicht zu akzeptieren, der die marxistische Lehre in eine Art ökonomischen Determinismus verwandeln will. „Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. (…) Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. – Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form.“
Bei der Betrachtung von Staat und Politik im heutigen Russland müssen diese Gesichtspunkte Berücksichtigung finden. Die stärkste Oppositionskraft in Russland, das von der KPRF angeführte patriotische Bündnis, führt einen entschiedenen Kampf gegen die Politik und das Bestehen der Oligarchen. Sie unterstützt den Präsidenten bei der Verwirklichung seiner Bekenntnisse, dem Volk zu dienen und einen stabilen Staat zu gestalten, der diese Stabilität in den Dienst von Frieden und gleichberechtigter internationaler Zusammenarbeit stellt. Die Dumawahlen haben die Widersprüchlichkeit dieses Prozesses gezeigt.
In Fortsetzung der Perestroika der 1980er-Jahre brachte das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts grundlegend andere Gesellschaftsstrukturen und große politische, ökonomische und soziale Verwerfungen mit sich. Die zerstörerische Politik Jelzins und seiner inneren und äußeren Umgebung führte – nach der Zerschlagung der UdSSR und dem Verbot der KPdSU – Russland in eine sozioökonomische Krise, die mit der Vernichtung entscheidender Zweige der Volkswirtschaft und der Entstehung der Oligarchie verbunden war. Sie führte zu einer extremen Spaltung der Gesellschaft, dem Verlust der Sicherheit des Landes, einem heftigen Absinken des Lebensniveaus und einem Rückgang der Bevölkerung, ja sogar zur Gefährdung des territorialen Bestands Russlands. In der Folge stellt sich den fortschrittlichen Kräften eine doppelte Aufgabe: Es gilt die Souveränität Russlands gegen die Angriffe von NATO, USA, EU und ihren Verbündeten im Land selbst zu verteidigen. Gleichzeitig müssen sie den „inneren Klassenkampf“ für die Interessen des Volkes gegen die russischen Oligarchen anführen. Das erfordert Flexibilität und Prinzipientreue.
Im September 1993 verfügte Jelzin die Auflösung des Obersten Sowjets. Die Sowjets waren eine widersprüchliche Einheit aus dem Erbe der sozialistischen Macht mit Elementen des bürgerlichen Parlamentarismus. In ihnen hatten nationale Kräfte zusammen mit antiimperialistischen Kräften die Mehrheit. Sie bildeten einen Gegenpol zur Macht des Präsidenten. Ihr Konsens war die Verteidigung der nationalen Souveränität.
„Die Reaktion hatte genau kalkuliert: Breite und Heterogenität der Front aus Nationalreformisten und Antiimperialisten, die diese bei demokratischen Wahlen stärkt, schwächt ihre Chancen auf einen Sieg bei einer gewaltsamen Konfrontation. (…)
In Übereinstimmung mit einer Entscheidung des Verfassungsgerichts qualifizierte der Oberste Sowjet die Handlungen Jelzins als Umsturz. (…) Die Führer der Föderation unabhängiger Gewerkschaften Russlands erklärten ihre Unterstützung für die Sowjets und riefen zum Streik auf. Sie waren jedoch nicht in der Lage, diesen zu organisieren: Auch in der Gewerkschaftsführung gab es keine Einheit. Die Führer der KPRF beschränkten sich auf den Aufruf, den Konflikt auf dem Verhandlungswege zu lösen, obwohl es für eine solche Lösung keine objektive Möglichkeit gab. Die Exekutive führte absichtlich den gewaltsamen Zusammenstoß herbei. Das Haus der Sowjets, in dem der Kongress der Volksdeputierten tagte, wurde vom Militär blockiert, OMON-Einheiten prügelten auf brutalste Weise auf friedliche Demonstranten ein. Aktivisten der Opposition aus dem ganzen Land kamen nach Moskau. Sie bildeten Abteilungen einer Volksmiliz, um das Haus der Sowjets zu schützen. Es fehlte nur noch ein Funken, um das Pulverfass zur Explosion zu bringen. (…)
Einige Stunden noch schwankten die Waagschalen. Im Fernsehen trat der zu Tode erschrockene Gaidar (Ministerpräsident) auf. Er rief die Bürger dazu auf, sich als Freiwillige zur Verteidigung des Jelzin-Regimes zu melden und versprach, Waffen an sie auszugeben. Weder der Kommandant des Militärkreises noch Verteidigungsminister Gratschow konnten sich jedoch dazu entschließen, die Armee einzusetzen. Der Ausgang wurde schließlich nicht von der Armee insgesamt entschieden, sondern von einigen tausend vom Jelzin-Regime gedungenen Offizieren. Die ersten Schüsse fielen abends am Fernsehzentrum Ostankino. Dann eröffneten Schützenpanzerwagen das Maschinengewehrfeuer auf die unbewaffneten Menschen. Der 3. Oktober 1993 wurde zu einem weiteren Blutsonntag.“
Aus: Jelena und Alexander Charlamenko: „Revolution und Konterrevolution in Russland“, erschienen im Neue Impulse Verlag und dort zu beziehen.