Was bedeutet es, wenn Hunderttausende vor allem junger Leute Politikern wie Bernie Sanders, Jean-Luc Mélenchon oder Jeremy Corbyn zujubeln und sie wählen? Was erklärt die Euphorie, die Martin „100 Prozent Gerechtigkeit“ Schulz zunächst auslöste, und die herbe Enttäuschung, die ihn in den Umfragen gerade abstürzen lässt? Die „heute show“ witzelt, mit Schulz kämpften die Sozialdemokraten demnächst um die Fünf-Prozent-Hürde.
Die Antwort scheint ziemlich klar: Die drei Erstgenannten haben die soziale Frage auf den Tisch gepackt, bei Schulz wurde das vermutet, war aber ein Irrtum. Sein Pech: Sie lag schon lange vor seinem Auftauchen als Messias auf dem Tisch. Als er nach den Wahldebakeln von Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen „demnächst konkrete Vorschläge“ versprach, war klar, dass sich an einigen deutschen „Kennziffern“ – ein Fünftel aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor, 6,4 Millionen „Hartz IV“-Empfänger und 2,4 Millionen Rentner, die in Altersarmut leben oder von ihr bedroht sind, grassierende Kinderarmut, Obdachlosigkeit und Wohnungsverlust in einem nie gesehenen Ausmaß, Stromsperren für 300 000 Haushalte jährlich usw. – mit ihm nichts ändern soll. Im Gegenteil: Bevor er sein Programm allgemein vorstellte, versprach er in einer Grundsatzrede am 8. Mai in der Berliner Industrie- und Handelskammer den Repräsentanten des deutschen Kapitals, dass er die Kritik an der deutschen Exportquote (2,2 Billionen Überschuss seit 2005) ignorieren wird und diese selbst mit ihm das Mantra der Regierungspolitik bleiben wird. Das Dumpingmodell hat oberste Priorität, Soziales bleibt marginal. Seitdem stürzen die Umfragewerte der SPD ab.
Schulz und seine Strategen übersehen: Relative Armut und absolute Verelendung als Resultat breiten sich in den großen Industrieländern seit längerem wieder aus. Ähnlich wie beim Thema Krieg-Frieden resultieren daraus bislang zwar keine starken außerparlamentarischen Bewegungen. Die Wahlergebnisse für Sanders, Mélenchon und vor allem für Corbyn, aber auch umgekehrt der Absturz der Schulz-SPD sind Anzeichen dafür, dass sich das rasch ändern kann. Das sollte nicht als Beginn eines neuen Aufschwungs linker Kräfte überschätzt, als Symptom für eine mögliche Wiederkehr von Klassenkampf von unten aber auch nicht unterschätzt werden.
Großen Teilen der Arbeiterklasse in den entwickelten Industriestaaten brennen andere Probleme als der „Cyberrusse“, die „Sicherheit“ oder die „Abschaffung des Westens durch den Islam“ auf den Nägeln. Sicher, viele lassen sich verführen, rechten Parolen zu folgen. Aber auch das hat seine unmittelbare Ursache in einer Politik, die „neoliberal“ zu nennen an Verharmlosung grenzt.
Dazu zwei aktuelle Belege: Im Heft 6/2017 der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ hat Rudolf Hickel für die Beschäftigten in den USA „einen massiven ökonomischen Abstieg“ festgehalten: Bis 1973 entwickelten sich demnach die Reallöhne im Einklang mit der Arbeitsproduktivität und verdoppelten sich zwischen 1947 und 1973. Danach betrug der Zuwachs bis 2007 nur noch 22 Prozent, während die Produktivität zwischen 1979 und 2001 doppelt so schnell wie die Reallöhne stieg. Die Weltwirtschaftskrise ab 2007, so Hickel, habe ein Übriges getan.
Der Internationale Währungsfonds hielt im April fest, dass die Lohnquote in allen entwickelten kapitalistischen Ländern seit Ende der 70er Jahre von 55 Prozent auf 50 Prozent bis zum Jahr 2008 gefallen ist. Die Stellung der arbeitenden Menschen habe sich verschlechtert.
Das ist schönfärberisch ausgedrückt, weil es die Wiederkehr von Massenarmut und Verelendung, die sich hinter solchen Ziffern verbirgt, nicht nennt. Die Bundesrepublik ist im Hinblick auf langfristige Reallohnsenkung oder –stagnation und Senkung der Lohnquote ein Brennpunkt.
Weil das so ist, sollte niemand Überraschungen im Bundestagswahlkampf ausschließen. Die SPD hat sich für den Schröder-Blair-Kurs entschieden. Das eröffnet Möglichkeiten für tatsächlich linke Parteien.