Es ginge, so ließ der deutsche Finanzminister Christian Lindner am 1. März verlauten, um die „Maximierung des Schadens für die russische Wirtschaft“. Auch das war verbal noch zu toppen: Sein französischer Kollege, der amtierende Ratsvorsitzende der EU-Finanzminister Bruno Le Maire, verkündete am selben Tag im französischen Fernsehen: „Wir werden einen vollständigen wirtschaftlichen und finanziellen Krieg gegen Russland führen.“ Die von der EU im Schulterschluss mit den USA beschlossenen Sanktionen seien von hoher Effizienz: „Russland wird leiden, Europa nicht.“ Allenfalls mehr Inflation werde es wegen der Energiepreise geben, aber: „Das russische Finanzsystem wird unter unseren Augen zusammenbrechen.“
Für die Wortwahl, berichtete am 3. März die „FAZ“, habe sich Le Maire inzwischen entschuldigt. Das war klüger als die dicken Backen zwei Tage vorher. Denn „Sanktionen wirken – auch hier“, titelte die Zeitung zu Recht einen Tag später. Es wird nicht bei einer Beschleunigung der Inflation bleiben. 20 Milliarden Euro Investitionen in Russland haben deutsche Unternehmen nach dem Willen des Bundestags nun abzuschreiben – Wirtschaftsminister Robert Habeck verkündete, davon sei ein gutes Drittel durch Bundesbürgschaften abgesichert, die nun fällig würden, und weitere elf Milliarden durch Hermes-Kreditabsicherungen. Alle Unternehmen, die auf deutscher Seite unter den Sanktionen leiden würden, würden ähnlich wie in der Corona-Pandemie durch den deutschen Staat gestützt werden. Diese Kosten kämen dann noch zu den 100 Milliarden für neue Waffen hinzu im großen Wirtschaftskrieg gegen Russland.
Die nächsten Wochen wird es erst einmal reichlich Durcheinander geben. Phil Seymour, Vorsitzender der „Association of European Leasing Companies“, empörte sich über den Beschluss der EU, die europäische Leasinggesellschaften zu verpflichten, alle geleasten Flugzeuge aus Russland bis zum 28. März zurückzunehmen – insgesamt 520 Maschinen: „Und wie macht man das? Die Russen sagten, wenn Sie sich weigern, sie uns zu leasen, holen Sie sie selbst zurück! Wie können wir 520 Besatzungen nach Russland bringen, wenn der Luftraum in Russland, Weißrussland und der Ukraine gesperrt ist? Wir können nicht einfliegen!“ Auch institutionelle Anleger, die einen Teil der insgesamt 86 Milliarden US-Dollar in russischen Aktien halten, stoßen auf große Hürden, den Rückzug praktisch zu organisieren.
Mittel- und langfristig wesentlicher als dieses Ruckeln an der Weiche, die da gerade umgelegt wird, ist aber etwas anderes. Es herrschte große Euphorie im herrschenden Medienwald über die Abstimmung in der UN, bei der 141 Staaten Russland zum Abzug aus der Ukraine aufgefordert hatten – bei nur fünf Gegenstimmen und 35 Enthaltungen. Wer sich die Liste der Enthaltungen nüchtern ansieht, wird aber schon beim Durchzählen der bevölkerungsreichsten fünf eine für die Sanktionskrieger ernüchternde Entdeckung machen: China, Indien, Pakistan, Bangladesch und Vietnam haben zusammen rund 3,3 Milliarden Einwohner – ein paar mehr also als Westeuropa und die USA. Danach folgen weitere Länder, die allesamt größer oder ähnlich groß sind wie Deutschland – zum Beispiel Iran und Irak, Kongo und Südafrika. Sie machen nicht nur nicht mit bei den Sanktionen (wie übrigens sogar das NATO-Mitgliedsland Türkei), sie scherten auch aus der Verurteilungsfront aus und werden ihre Wirtschaftsbeziehungen zu Russland nicht abbrechen. In der Summe umfassen sie ziemlich genau die Hälfte der Weltbevölkerung.
Da ist es wohl auch kein Zufall, sondern bildet die Kürze der Arme, die der „Wertewesten“ in der Weltwirtschaft inzwischen eben hat, korrekt ab, wenn der US-amerikanische Präsident in seiner Rede zur Lage der Nation nach innen gerichtet betonte, die Sanktionen sollten Russland treffen, aber er werde „alles tun“, um die „amerikanischen Unternehmen und Verbraucher zu schützen“. Die Sanktionsfront wird daher schon ziemlich bald Schlupflöcher sichtbar werden lassen – vielleicht werden die von Airbus zurückbeorderten Maschinen in einem Jahr entweder durch Boeing oder durch chinesische Fabrikate ersetzt werden. Schon jetzt ist von den starken Worten, Russland vom SWIFT-Verfahren auszuschließen, nicht mehr viel übrig geblieben: Etwas kleinlaut musste die EU einräumen, die in einer Nachtsitzung letzte Woche beschlossene Liste der von diesem Verfahren ausgeschlossenen Banken umfasse nur etwa 25 Prozent des russischen Bankensektors. Mehr ginge leider nicht, weil sonst die Bezahlung russischer Gaslieferungen in die EU nicht mehr abgewickelt werden könne.
Gewarnt vor den eher bescheidenen Wirkungen dieses Wirtschaftskrieges waren alle. In einem der wichtigsten Selbstverständigungsorgane der Herrschenden, dem Londoner „Economist“, war bereits am 19. Februar die Zusammenfassung eines umfassenden Werkes von Nicolas Mulder von der Cornell University über die Wirkung von Sanktionen zu lesen, die auf zwei „Lektionen“ hinauslief: Erstens haben die meisten Sanktionen „nicht gewirkt“ und zweitens hatten sie „oft unerwartete Konsequenzen“. Eine davon wird wahrscheinlich die Stärkung der Wirtschaftsbeziehungen Russlands mit den vier Milliarden Menschen sein, die die Sanktionswelle nicht mitmachen.