Arbeiten bis zum 69. Lebensjahr – egal wo, ob in der Intensivpflege, in einer Eisengießerei oder auf dem Bau. Diese Forderung der Unternehmerverbände haben sich in der vergangenen Woche die Wirtschaftsinstitute DIW, Ifo Institut, IFW und IHW in ihrer Studie „Gemeinschaftsdiagnose – Pandemie verzögert Aufschwung, Demographie bremst Wachstum“ zu eigen gemacht.
Neben dem altbekannten Argument des demographischen Wandels führten die Wirtschaftswissenschaftler hier die Pandemie als Begründung für weitere De-facto-Rentenkürzungen ins Feld. Im Vorwort der vom Bundeswirtschaftsministerium in Auftrag gegebenen Studie liest sich dies wie folgt: „Die öffentlichen Haushalte dürften durch die anhaltenden Belastungen im Zuge der Corona-Pandemie in diesem Jahr ein Defizit aufweisen, das mit 159 Mrd. Euro sogar noch etwas höher ausfällt als im vergangenen Jahr. In Relation zum Bruttoinlandsprodukt dürfte das gesamtstaatliche Budgetdefizit in diesem Jahr mit 4,5 Prozent in etwa konstant bleiben und im kommenden Jahr auf 1,6 Prozent deutlich zurückgehen. Nach der Bewältigung der Corona-Krise wird die Wirtschaftspolitik vor der Herausforderung stehen, die Staatsfinanzen wieder auf eine solide Basis zu stellen. Dabei ist angesichts der Demografie vor allem die Rentenversicherung in den Blick zu nehmen. Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters würde die Staatsfinanzen gleichzeitig ein- und ausgabeseitig stützen.“
Was hier auf den ersten Blick als scheinbar seriöse Forschung daherkommt, ist bei genauerem Hinsehen ein Versuch, der aktuellen Krisenstrategie der Herrschenden einen wissenschaftlichen Anstrich zu verpassen. So soll die Finanzierung der Krisenlasten und der Pandemiefolgen durch die Lohnabhängigen als alternativlos erscheinen.
Dabei ist der Ruf nach einer weiteren Anhebung des Renteneintrittsalters weder besonders originell noch neu. Bereits 2019 wurde die Rente ab 69 vom Unternehmerverband BDA gefordert. Damals, vor dem Ausbruch der Pandemie, musste eine höhere Lebenserwartung als zentrales Argument für den Rentenklau herhalten. Die gleiche Argumentation findet sich in der aktuellen Debatte wieder und liest sich in der „Frankfurter Rundschau“ wie folgt: „Immer mehr Menschen gehen in Rente, gleichzeitig kommen weniger Menschen auf den Arbeitsmarkt nach. In den kommenden Jahren erreichen die geburtenstarken Jahrgänge das Rentenalter. Künftig verlassen nach Berechnung der Fachleute pro Jahr etwa 400.000 mehr Menschen den Arbeitsmarkt als nachrücken.“
Mit der gleichen Argumentation könnte man auch die abenteuerliche These begründen, dass mit dem massiven Rückgang der Beschäftigtenzahlen in der Landwirtschaft seit den 1950er Jahren die Versorgungslage mit Nahrungsmitteln in Deutschland stark gefährdet sei. Bei der Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte ist aber selbstverständlich nicht die Demographie der entscheidende Faktor, sondern die Produktivität. Ähnlich verhält es sich bei der Rente. Nicht das Verhältnis zwischen Einzahlern und Rentnern, sondern die Produktivität einer Volkswirtschaft hat den entscheidenden Einfluss auf das Rentenniveau. Denn wenn die Größe des Kuchens schneller wächst als die Anzahl der Esser, werden auch die Kuchenstücke größer.
Soweit zu den Thesen der sogenannten Experten aus der neoliberal geprägten Wirtschaftswissenschaft. Der DGB hat zum Thema Rente und Lebensarbeitszeit stattdessen die wirklichen Experten befragt, die Kolleginnen und Kollegen, die ihre Arbeitskraft bis ins hohe Alter verkaufen sollen.
Diese kommen im Rahmen des „DGB Index gute Arbeit“ zu ganz anderen Befunden. Nur jeder zweite Beschäftigte erwartet unter den aktuellen Bedingungen, seine Tätigkeit bis zum gegenwärtigen Renteneintrittsalter ausüben zu können. Fast 50 Prozent der Befragten geben an, dass sie von ihrer späteren Rente nicht werden leben können. Daher sollten statt Rentenklau durch immer weitere Erhöhungen des Renteneintrittsalters fließende und frühere abschlagsfreie Übergänge in der Rentenpolitik auf der Agenda stehen.