Der Mindestlohn in Deutschland steigt in vier Mini-Schritten von derzeit 9,35 Euro bis zum 1. Juli 2022 (!) auf 10,45 Euro. Das sei ein deutlicher Schritt auf dem Weg zu den geforderten 12 Euro, heißt es in einer Erklärung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann wird in einem Interview mit den Worten „ein guter Kompromiss“ zitiert.
Tatsächlich gab es im Vorwege die Forderung von wirtschaftsnahen Ökonomen und ihrer politischen Lobby, den Mindestlohn zu senken. Die Mini-Erhöhung ist dennoch kein Grund zur Freude, sondern ein Armutszeugnis. Das muss gerade in einer Wirtschaftskrise selbst den Freunden keynesianischer Wirtschaftspolitik einleuchten. Nichts verbessert die Binnennachfrage mehr als die Stärkung der Kaufkraft unterer Einkommensschichten. Dort kann man davon ausgehen, dass die Zuwächse zu hundert Prozent wieder in den Wirtschaftskreislauf fließen. Das wäre ein Bestandteil eines Konjunkturprogrammes, das tatsächlich den Werktätigen nutzen würde und nicht den Konzernen.
Diesen „Kompromiss“ gutzuheißen ist auch vor dem Hintergrund aktueller Studien unverständlich. Diese zeigen auf, dass der Mindestlohn 12,63 Euro betragen müsste, um nach 45 Berufsjahren eine Rente über der Grundsicherung zu erreichen. Es ist auch keine Perspektive, darauf zu hoffen, dass der Mindestlohn sich schrittweise weiter auf 12 Euro entwickeln wird. Wann denn? Im derzeitigen Tempo wäre es etwa im Jahre 2025. Und: Zeigen nicht auch verschiedene Branchenmindestlöhne, dass es so nicht bleiben kann? Sie liegen deutlich über dem derzeitigen Mindestlohn. Mit der Mini-Erhöhung wird jetzt schon der Kampf um eine auskömmliche Rente im Alter für viele ad acta gelegt.
Es war der DGB, der vor zirka sieben Jahren mit einer bundesweiten Kampagne den nötigen politischen Druck erzeugt hat, um einen Mindestlohn festzulegen. Auch damals wurde nur ein Kompromiss erzielt. Bis heute existieren zahlreiche Ausnahmen zum Anspruch auf Mindestlohn, die unakzeptabel sind – Jugendliche unter 18, Langzeitarbeitslose, Praktikanten bleiben zum Beispiel wie selbstverständlich außen vor. Es stünde dem DGB gut zu Gesicht, gerade jetzt wieder mit Aktionen in die politische Öffentlichkeit zu treten und diesem unsäglichen Treiben ein Ende zu setzen, anstatt das Armutszeugnis zu loben.